Blick ins Tagebuch

Aufgeklärte Ansichten über Kommunismus und neue Werkpläne

09.11.1948

P. P. Dienstag den 9.XI.48 [9.11.1948]
Unruhig geschlafen. ½2 rote Kapsel. Im Stuhl. – Dasselbe Wetter. Indictment des von Pearson bloßgestellten Parnell Thomas, der komischer Weise die Aussage verweigert nach dem Vorbild seiner Opfer. – Film-President Johnson, von Europa zurück, äußert äußerst aufgeklärte Ansichten über Kommunismus und die Überholtheit der alten Diplomatie. Man solle Arbeiter-Vertreter mit den Weltgeschäften betrauen. – – An der Legende weiter. – Gegangen über das Alte Haus. Klaus Pr. zum Lunch. Kleine Rechnungsfehler im Faustus. Höchst positive Besprechung in »Los Angeles Times« vom Sonntag. – Exemplare des Wiener »Faustus«, unschön dick, mit allen Druckfehlern. Exemplare der Flinkerschen französischen Ausgabe der Kriegsreden mit dummer Einleitung von Vermeil [1]. – Brief von Frido.[2] – Zum Thee Konni Kellen, der von deutschen Zuständen erzählte. Über meine Probleme dort: Leipzig und München. Ist noch mehr gegen die Leipziger Festlegung. – Zum Abendessen Heinrich.

 

Wie weit links stand Thomas Mann in den USA, nach Ende des Krieges? Zu weit links, meinten Geheimdienste und die Ankläger der Un-American-Activities-Tribunale. Dabei ist seine kritische Meinung vor allem europäisch geprägt, eben der Aufklärung verpflichtet und allergisch auf totalitäre und dumpf-nationale Töne. Aber interessierte er sich überhaupt für die Politik seines neuen Heimatlandes? Sehr wohl: Er las regelmäßig politische Periodica wie „Time“ und „Nation“; mit Herbert Marcuse diskutierte er dieser Tage häufig über Trumans Kabinettsumbildung, die Erneuerung der New-Deal-Politik sowie über das Civil Rights Movement und die Gleichberechtigung der Schwarzen. Mit seiner Tochter Erika schrieb er eine Grußbotschaft für eine Wahlveranstaltung von Trumans Herausforderer Henry A. Wallace, für den er bei der Wahl am 2. November auch stimmte – ein hochaktiver citizen also.

Besonders skeptisch war er gegenüber den antikommunistischen Umtrieben im Land, die in der Erstellung einer schwarzen Liste von in Hollywood beschäftigten Künstlern mündete. Parnell Thomas, Chairman of the House Committee on Un-American Activities, war das Gesicht dieser Proskriptionsmethode. Diesmal stand dieser selbst wegen Begünstigung eigener Büromitarbeiter am Pranger, weil der Journalist Drew Pearson diese Gefälligkeiten aufgedeckt hatte. Die offizielle US-amerikanische Politik war 1948 geradezu hysterisch antikommunistisch. Kein Wunder, dass der Präsident der Motion Pictures Association of America, Eric Alva Jonston, einen „non-governmental exchange“ mit kommunistisch dominierten Ländern wie der Tschechoslowakei und Jugoslawien suchte, der staatlicherseits nicht möglich war. Thomas Mann befürwortete diese Öffnung, die auch Regisseure wie sein Freund William Dieterle vorantrieben, und traf junge Filmemacher aus Ungarn und Tschechien, beispielsweise auf Dinnerparties der Familie Eppstein. Thomas Mann wünschte sich eine neue Politik gegenüber Osteuropa und hielt die diplomatischen Mittel für überholt, er wünscht sich eine Weltverfassung und Stärkung der Vereinten Nationen. Die progressive Idee der Mitbestimmung von Arbeitnehmervertretern in den Konzernzentralen wurde jedoch nie in den USA gesetzlich festgeschrieben, wie es in der späteren Bundesrepublik der Fall war. Aus der Perspektive seines Umfeldes in Hollywood heraus war Thomas Mann politisiert und ein wacher Beobachter seines neuen Heimatlandes, der sich frischen Wind wünschte, der damals aus dem kommunistischen Lager wehte: „Der Kommunismus, widerwärtig in seinen Mitteln, heute wohl die einzige konstruktive Kraft“, schrieb Mann am 13. Dezember 1948. Ein bemerkenswertes Bekenntnis, das jedoch nicht einfach mit parteipolitischem Engagement verwechselt werden darf, ging es Thomas Mann doch wohl eher um neue politische Impulse, um ein antagonistisches Prinzip gegen die präsidialen und kapitalistischen Ideen.

Gegen Thomas Mann wirkt sein Bruder Heinrich, in der Weimarer Republik selbsternanntes Sprachrohr der Arbeiterbewegung, unpolitisch und apathisch. Er ist im Exil verarmt, materiell und vom Elan her betrachtet. Seine einstigen Erfolge waren nicht gefragt, er war auf seinen Bruder angewiesen, dämmerte im Schatten von dessen Erfolgen. Nach einigen Wochen im Haus des Bruders bezog Heinrich Mann eine eigene kleine Wohnung, kam jedoch häufig zum Abendessen zu Besuch. Er hatte nicht einmal ein Telefon: „Und wie soll es werden, wenn wir reisen?“, fragten sich die Manns. Heinrich Mann war verbittert über die Weltverhältnisse: „Bedrückung des Bruders, starren und nichts wissen wollenden Eigensinn. Liquidierung aller Deutschen, die mit Amerikanern u. Engländern kollaborieren, wäre willkommen“, so die resignative Eintragung im Tagebuch vom 14. Oktober. Die Familie sorgte jedoch auch für viel Freude: Kurz vor Weihnachten kam Michael Mann mit den Enkeln Frido und Tony, die für einige Monate sogar die Schule in Santa Monica besuchten. Häufig zu Besuch war Golo Mann, zumeist am Wochenende. Auch Klaus Pringsheim (1923-2001), Sohn des in Japan lebenden Zwillingsbruders von Katia Mann und Dirigenten, lebte seit 1946 zeitweilig im Haus der Manns, zunächst im Amalfi-, dann im San Remon Drive, nur einen Spaziergang entfernt.

Scheinbar nur eine Spitzfindigkeit, aber der Neffe hatte den jüngsten Roman Manns genau gelesen und ihn auf eine Unstimmigkeit hingewiesen, die bis hin zum jüngsten Kommentar des Werkes ungeklärt und wohl unerheblich ist. Im Herbst 1948 wurde der Roman breit diskutiert. Thomas Mann hatte entschieden, durch den essayistischen Text „Entstehung des Doktor Faustus“ sein Werk und dessen Entstehungsprozess zu kommentieren, eine für Mann beispiellose Maßnahme, die zeigt, dass er um das rechte Verständnis dieses so symbolischen Buches fürchten musste. Kurz zuvor hatte er den im Juni begonnenen Essay beendet. Unterdessen rollte die Rezensionsmaschine: Milton Merlin besprach das Werk zwei Tage zuvor unter dem Titel „Thomas Mann Gives His Version of Faust“ in der „Los Angeles Times“. Abgesehen von der maliziösen Besprechung Orville Prescotts in der „New York Times“ waren die Rezensionen, wie besonders die von Charles J. Rolo im „Atlantic Monthly“, sehr positiv. Leider, so Mann, überbetonen die Rezensenten die „deutsche“ Allegorie, Leverkühn sei jedoch ein Held der Gegenwart. Umso nötiger also der Selbstkommentar. Besonders in den USA stellte sich nicht nur publizistischer, sondern auch materieller Erfolg ein: 23.000 Bestellungen lagen laut Verleger Alfred A. Knopf Anfang November vor. Mann erhoffte sich von der amerikanischen Ausgabe eine bessere Qualität als beim fehlerhaften Wiener Druck des „Doktor Faustus“ im Bermann-Fischer Verlag, bei dem einige Passagen gekürzt wurden. Aber auch in Japan, Deutschland in mancher Hinsicht vergleichbar, rührte sich Interesse: In diesen Tagen wechselte Mann zahlreiche Briefe mit japanischen Verlegern, die das Schicksal der untergegangenen deutschen Welt interessierte. Sein Neffe Erik Pringsheim sorgte in Tokio für das Eindämmen wilder Übersetzertätigkeit und konnte vermelden, Thomas Mann sei unterdessen Yen-Millionär geworden.

Mit Katia besprach er wenige Tage zuvor seine „Geldverhältnisse“: „Der Roman [ist] wohl die letzte Gelegenheit, viel zu verdienen, was durch eine gehässige Presse behindert werden kann“. Diese Sorge schwand in den kommenden Wochen zunehmend, die Unzufriedenheit über die literarischen Projekte blieb jedoch bestehen. Anfang November nahm er die Arbeit am Kapitel „Fischer von Sankt Dustan“ seiner Gregorius-Legende wieder auf, wissend, dass diese Legendenerzählung kein internationaler Bestseller würde werden können, wies sie doch die stofflichen Defizite in besonderem Maße auf, die Mann bereits beim „Faustus“ zu einem Selbstkommentar hatten greifen lassen: große Ernsthaftigkeit und Schwere, transzendentales Übergewich, abendländische Düsterkeit. Thomas Mann sann auf ein Gegenmittel, auch um seinem Spätwerk eine unvermutete Wendung zu geben: „Wenn ich lebe und bei Kräften bleibe, wenn Ruhe, Frieden und Heiterkeit mir vergönnt ist, will ich mit der Fortführung des „Felix Krull“ noch eine Erfolgschance schaffen und die Vorstellung der amerikanischen Kritik von meinem prätentiösen Denkertum korrigieren“, schrieb er am 6. November 1948. In der Tat war es weder ein Luther-Drama noch ein Erzähltext über Friedrich den Großen, sondern der Versuch einer Fortsetzung der Hochstaplergeschichte, mit der Thomas Mann 1954 sein Romanwerk vollendete. In den Novembertagen wird deutlich, aus welchen Gründen er sich dem mehr als vierzig Jahre alten Stoff wieder zuwandte: Er wollte die Welt noch einmal überraschen. Noch heute zweifeln Kritiker und Leser, ob dies gelungen sei.

Einer der eifrigsten Trommler für den „Doktos Faustus“ in Deutschland war Hans Mayer (1907-2001), der den Roman in den Periodica „Der Dreiklang“ und „Ost und West“ rezensiert hatte. Der letztere Titel steht fast symbolisch für Mayers eigene Vita: Als Emigarnt in Frankreich und einstiger Lehrer am Collège de Sociologie arbeitete er bei einer Nachrichtenagentur in Frankfurt und dann als Kulturjournalist beim dortigen Rundfunk, wo er auch Golo Mann kennenlernte. Über die westdeutsche Politik enttäuscht, ging er mit Stefan Hermlin und anderen im Frühjahr 1948 in die DDR und nahm einen Lehrstuhl für Literaturwissenschaft in Leipzig an, den er bis zu seiner Rückübersiedlung1963 innehatte. Mit großem Elan versuchte Mayer in Leipzig, eine Thomas-Mann-Stiftung aufzubauen, deren Existenz und Konzeption dieser als „etwas prekär“ bezeichnete. Auch nach Beratungen mit seinem Sohn Golo und dem Freund seiner Kinder Klaus und Erika, dem ehemaligen Besatzungsoffizier und Deutschlandkenner Konrad (Konni) Kellen – ursprünglich Katzenellenbogen – erteilte er Mayer eine Absage und schütte ihm in einem langen Brief vom 14. November sein Herz über die „russische Kulturpolitik“ aus, der er misstraute. Auch zum Ordentlichen Mitglied der Bayerischen Akademie der Künste ließ er sich nicht wählen. Er schrieb seinen Freunden Preetorius und Hans Reisiger ab. Thomas Manns Zögern sich im kommenden Goethejahr 1949 vor den propagandistischen Karren der „Ostzone“ spannen zu lassen, zeigt, dass er die kommunistische Idee zwar als konstruktiv empfand, sich jedoch vor einseitigem Bekenntnis und Indienstnahme scheute. Daher zwei Absagen 1948 und zwei Besuchszusagen 1949. Eine intelligente Politik des Ausgleichs war gefragt.

 

[1] Der Professor an der Pariser Sorbonne Edomond Vermeil hatte das Vorwort zu „Appells aux Allemands. Message radiofusés aux Allenands d’Octobre 1940 à Juin 1945“ in Paris bei Martin Flinker verfasst, der französischen Übersetzung von Thomas Manns Radioansprachen „Deutsche Hörer!“.
[2] Der Kindergruß aus Zürich ist im Thomas-Mann-Archiv (TMA) erhalten.
Aus: Thomas Mann: Tagebücher. 28.5.1946-31.12.1948. Herausgegeben von Inge Jens. Frankfurt a. Main: S. Fischer Verlag1989, S. 327f.

Das „Bedford“-Hotel in New York: Hauptquartier der Exilliteratur

01.11.1940

Freitag, den 1.XI.40, New York, Bedford
½9 Uhr auf. Kaffee- u. Cereal-Frühstück nach dem Bad. 10 Uhr Bermann. Mit ihm über die Stockholmer Ausgabe der »V. K.« dann über den Verlagsplan. Danach über diesen Gegenstand Konferenz in unserm Salon mit van Loon, J. Romains, Werfel, Zuckmayer. Sehr vorläufige Ergebnisse. Rendez-vous für den 12ten. Zwischendurch Erika. Verabschiedung von Heinrich. – ½1 mit K. zum St. Regens, gutes Lunch mit Knopfs, bei dem ich des Wohlgeschmacks wegen u. weil ich beim gestrigen Dinner appetitlos war, viel aß. Über The Beloved, die V. K., den Essayband und die Election, deren Ausgang für das Außenpolitische nichts Wesentliches ändern soll. Mit Taxi ins Hotel, während K. in der verschleppten Sache ihres Bruders Peter unterwegs. – –
Zurück in Princeton. Im Bedford Thee mit K. u. Klaus. Aufbruch zum Zuge 615. Unterwegs Magazins. An der Junction Frau v. Kahler, die wir nach Hause brachten. Wermut bei uns. Abends die Post gelesen und gleichzeitig einer weiteren, stark sozialen Wahlrede Roosevelts zugehört, die aufs stärkste bejubelt wurde. Seine Wiederwahl ist von höchster Bedeutung für die Entwicklung aller Dinge. Der Charakter der Epoche macht sie unwahrscheinlich. Es wäre die erste politische Freude u. Genugtuung seit sieben einhalb Jahren. Andererseits trifft hier einmal das Führer- und Massenmotiv mit dem höheren und geistigen Interesse zusammen – dies könnte zu einer Genugtuung führen und den Nazismus schlagen.

 

Im Exil sein heißt, für längere Zeit im Hotel und aus dem Koffer leben. Kaum ein Hotel wurde in solchem Maße zum Salon und Wohnzimmer europäischer Exilschriftsteller wie das „Bedford“ an der Kreuzung von 118 und 40. Straße in Midtown Manhattan. Klaus Mann lebte hier viele Monate, Erika ebenfalls. Auch für Thomas und Katia Mann wurde das Hotel vorübergehend zur Heimat, selbst in der Princetoner Zeit zum häufig aufgesuchten New Yorker Standbein. Denn in die Universitätsstadt in New Jersey hatte es Mann als Gastprofessor für Literatur verschlagen, freilich ohne besondere Lehraufgaben. Die bevorzugte Hotelbehandlung und die Affinittät zum „Bedford“ ist dadurch zu erklären, dass der Hotelmanager, Anton Nägel, ein Emigrant wie die Manns war und Thomas Mann den Chef des Hauses bereits seit 1935 als Geschäftsführer des Hotels „Algonquin“ kannte.

Thomas Mann erhielt auch diesmal eine Suite mit Salon, ansonsten war die Herberge auch nicht so kostspielig wie andere Hotels in Manhattan. Dort nahm er das ortsübliche „Cereal-Frühstück“ – Cornflakes mit Milch – und am Nachmittag den „Thee“. Trotz aller Bequemlichkeit konnte doch auch die Gastlichkeit des „Bedford“ nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Familie Mann nicht aus ureigenem Wunsch in New York logierte. „Seit sieben einhalb Jahren“, wie Thomas Mann in diesen Tagebuchzeilen präzisiert, sind sie auf der Flucht fern der deutschen, der Münchner Heimat, ohne publizistische Resonanz in Hitlers Deutschland.

Seit 1938 waren Bücher Thomas Manns im Deutschen Reich nicht mehr legal zu erwerben. Von Stockholm aus setzte Gottfried Bermann Fischer seine verlegerische Aktivität fort und beschloss dem Verlag mit der „Stockholmer Ausgabe“ der Werke Thomas Manns ein in Antiqua gesetztes Flaggschiff zu geben. Im Herbst 1939 erschienen „Lotte in Weimar“ und „Der Zauberberg“, der Zweite Weltkrieg begann jedoch, Finnland trat in den Krieg ein, Norwegen wurde besetzt. Der Verleger hatte seine Flucht bereits organisiert, als er in Berlin verhaftet wurde und nach Monaten Gefängnis über die Sowjetunion fliehen konnte. Bermann Fischer emigrierte nach New York und beschloss, seinen Verlag in Stockholm von den USA aus zu steuern. Erstes Produkt dieser „Fernsteuerung“ war Thomas Manns Erzählung „Die Vertauschten Köpfe“ – im Tagebuch „V.K.“ genannt. Manns Bücher wurden in der Schweiz, in den USA, Mexiko und überall sonst verkauft, wo die Nazis es nicht verbieten konnten. Thomas Mann war zu dieser Zeit ein wichtiger Berater für seinen Verleger, der auch einen neuen Verlag in New York plante. Thomas Mann stand mit vier bedeutenden Kollegen zum Aufbau dieses Vorhabens bereit: der Schriftsteller Hendrik Willem van Loon (1882-1944), den Thomas Mann seit 1935 kannte und der sich sehr für die deutschen Emigranten einsetzte; der Präsident des PEN-Club Jules Romains (1885-1972), ein französischer Romancier und Dramatiker im amerikanischen Exil [1] sowie die beiden erfolgreichen deutschen Schriftstellerkollegen Franz Werfel und Carl Zuckmayer, beide Verlagsgenossen Thomas Manns. Das Resultat des Treffens im Salon der Suite von Thomas Mann war mager: „sehr vorläufige Ergebnisse“. Auch beim angekündigten Treffen am 12. November kam es nicht zu einem Durchbruch. Fritz Landshoff, einer der rührigsten Verlegerpersönlichkeiten des Exils, wie auch Alfred A. Knopf waren nicht mit von der Partie, Bermann Fischer unter die Arme zu greifen.

Viel besser als das Treffen mit den Literaten bekam Thomas Mann das Lunch mit seinem amerikanischen Verleger Knopf. Dies fand im New Yorker Stammhaus der Exklusiven „St. Regis“-Kette statt. In Erinnerung an den ehemaligen Besitzer des Luxushotels an der 5th Avenue, Astor, heißt das Restaurant, in das Knopf Thomas Mann einlud „Astor-Court“. Die Amerikaner hatten unterdessen auch mehr Appetit auf seine Büchern bekommen, insbesondere an „Lotte in Weimar“, das aus verkaufsstrategischen Gründen mit dem Untertitel „The Beloved Returns“ versehen wurde. Eine Übersetzung von „Die vertauschten Köpfe“ sollte bald erscheinen – genauso wie ein Essayband.

New York war für die ganze Familie Mann Ersatzheimat, besser: Treffpunkt und Hauptquartier ihrer Aktivitäten. Nach seiner abenteuerlichen Flucht hielt sich Heinrich Mann mit Nelly Kröger vorübergehend in New York auf. Erika Mann hielt in New York Kontakte zur BBC und dem „Office of War Information“. Sie tourte mit ihrem Bruder Klaus Mann auf Vortragsreisen durch die USA, um vor dem NS-Regime zu warnen. Mit „Escape to life“ über Persönlichkeiten der deutschen Kultur- und Intellektuellenszene im Exil sowie „The Other Germany“, in Zusammenarbeit mit Erika Mann verfasst, versuchte er die Entstehungsbedingungen von Kultur im Exil zu analysieren – eine der produktivsten Phasen in Klaus Manns Leben. Weite Teile der Bücher wurden im „Bedford“-Hotel geschrieben. Auch Monika Mann und ihr Gatte sollten nach New York kommen, doch wurde ihr Schiff „City of Benares“ durch einen deutschen Torpedo getroffen, Monika überlebte knapp, ihr ungarischer Mann ertrank. Katia Mann bemühte sich an diesem Tag in diplomatischen Missionen um die Freilassung ihres Bruders, des Physikers Peter Pringsheim, der in Belgien nach dem Einmarsch der Nazis verhaftet war und erst im Dezember 1940 aufgrund amerikanischer Kontakte freikam und in die USA emigrieren durfte. Auch Erich von Kahler (1885-1970) floh wie Thomas Mann aus der Schweiz in die USA, findet wie Hermann Broch und Albert Einstein in Princeton eine Anstellung. Seine von Thomas Mann erwähnte Frau Josephine galt den Zeitgenossen als bemerkenswert: studiert, aus mondänem Elternhaus, selbstbewusst. Im Herbst 1940 verließ sie von Kahler, der – in praktischen Dingen unbewandert – ein sehr stilles Exilantenleben führte, dessen Werke wie „Man the Measure“ fortwirkten. Emigrantenschicksale, verbunden durch das „Hotel Amerika“.

Für diese exilantenfreundliche US-Politik wird der 26. Präsident der USA, Franklin D. Roosevelt, verantwortlich gemacht. Er verkörperte die Sozial- und Wirtschaftsreformen des „New Deal“, die die Schrecken der Weltwirtschaftskrise bannten und die USA stärkten. Nach dem Scheitern des „Appeasements“ mit den Deutschen nach deren Einmarsch in Polen zeigte er trotz formaler Neutralität Solidarität mit London. Seit September 1940 agitierte das „America First“-Komitee gegen ein Eingreifen der USA in den Krieg. Neben Isolationisten wie z.B. Rekordflieger Charles Lindbergh standen insbesondere die Republikaner mit Wendell L. Wilkie an der Spitze gegen seine engagierte Politik. Am 5. November wurde Roosevelt mit knapp 55 % Zustimmung zu einer nur durch den Kriegsausbruch gerechtfertigten dritten Amtszeit gewählt. Dass „seine Wiederwahl von höchster Bedeutung“ für die Weltpolitik war, hat auch Philip Roth’s Roman „Gefahr für Amerika“ ausgeleuchtet, der danach fragt, wie die Weltpolitik an diesem Scheideweg verlaufen wäre, hätten sich isolationistische oder gar nazifreundliche Kräfte in den USA durchgesetzt. Thomas Mann war pessimistisch. Umso mehr jubelte er am 6. November, die Zeit der „Appeaser-Clique“ und Zögerer sei nun vorbei – der erste Hoffnungsschimmer seit sieben Jahren. Thomas Mann sandte ein Glückwunschtelegramm an Roosevelt, mit dem er am 31. Oktober noch telefoniert hatte. Thomas Mann hatte erkannt, dass diese „Election“ für Europa, sogar für die Weltgeschichte eine Schicksalswahl war. Er gönnte Roosevelt den Erfolg, weil er überzeugt war, dass dieser ganz im Gegensatz zu Hitler sowohl die Massen hinter sich sammeln als auch in seine Politik durch breite geistige Interessen und Humanismus einbringen könne. Diese Mischung hielt er für geeignet, die Nationalsozialisten zu besiegen.

Gerade New York war für Thomas Mann aber nicht nur ein Ort der Verhandlungen, Meetings und des Austauschs. Gerade in diesen Tagen begann Manns spürbare Aktion für den Widerstand gegen Hitlerdeutschland, es starten seine Radioappelle „Deutsche Hörer“, die BBC London ausstrahlte und die im New Yorker Studio produziert wurden. Bis Kriegsende sollten es fast 60 Radiomitteilungen sein. Erst Mitte Oktober waren die Verhandlungen durch Vermittlung von Erika Mann konkret geworden, am 24. Oktober bereits hatte er seine erste Botschaft geschrieben und dann nach London „gekabelt“. New York bot solche publizistischen Möglichkeiten.

Princeton war hingegen unspektakulär. Die Rückkehr per Zug routiniert, fast jede Woche gab es einen Abstecher nach New York, einen Ausflug in diese Welthauptstadt der Emigration. Stieg Thomas Mann in Princeton aus, erholt durch Magazinlektüre, so war er wieder ganz in Amerikas distinguierter akademischer Provinz angekommen, in der es fast so aussah, als befände sich die Welt nicht im Krieg. Thomas Mann scheint dies trotz der Idylle seines Lebens im Universitätsstädtchen dennoch keinen Tag vergessen zu haben.

 

Aus: Thomas Mann: Tagebücher 1940-1943. Herausgegeben von Inge Jens. Frankfurt a. Main: S. Fischer Verlag 1982, S. 173
[1] Am 31. Oktober 1940 hatte Thomas Mann mit beiden vorgenannten an einer Festveranstaltung des „Emergency Rescue Committee“ im Hotel Commodore teilgenommen, die der glücklichen Rettung französischer Schriftsteller galt. Thomas Mann solidarisierte sich und ergriff das Wort zu einer Ansprache.

Thomas bleibt im Exil – unbequem und aktiv

22.10.1945

Pacif. Palis., Montag den 22.X.45
Großer Erfolg de Gaulles bei den französischen Wahlen. – Schrieb am Kapitel weiter (Gesta) und ging bei angenehmem Wetter bis zum alten Haus. Persönlicher Brief von Golo mit Beilagen aus deutschen Blättern, Radio-Bericht über die Antwort an Molo, Artikel gegen Thiess, Abdruck des Schlusskapitels von „L.i.W“ – Benachrichtigung durch den Aufbau, daß die „Staatszeitung“ den Brief mit tückischer Überschrift abgedruckt hat. – Sonst viel Post zu lesen. Ehrendoktor of Hebrew Letters des Hebrew College in Cincinati.- Nachmittags geschlafen. Nach dem Thee Brief an Vicco K. [1] diktiert. Danach dem Aufbau über die „St.Z.“ ironisch geschrieben. Abends Zeitschriften. General Halder behauptet bei seinen Verhören in London, eine Offinziersgruppe sei, bevor Chamberlain nach Berchtesgarden flog, im Begriffe gewesen, Hitler zu verhaften, da der Angriff auf die vollkommen gerüstete Tschechoslowakei für katastrophal gehalten wurde. Die Verblüffung über Hitlers politische Voraussicht habe den Coup verhindert.

 

In der Provinzzeitung „Hessische Post“ erschien Anfang August 1945 einer der für die deutsche Kulturgeschichte folgenreichsten Artikel der Nachkriegszeit: Walter von Molos Aufruf an Thomas Mann, als „guter Arzt“ nach Deutschland zurückzukehren und die Nöte der Deutschen im zertrümmerten Deutschland kennenzulernen. Der baltendeutsche Schriftsteller Frank Thieß goß noch Öl ins Feuer und bezeichnete sich und andere Autoren als Vertreter einer „Inneren Emigration“, der es an moralischer Rechtfertigung nicht fehle. Vielmehr hätten diese „Emigranten“ nicht aus bequemer Position dem Leiden des deutschen Volkes zugeschaut, sondern es mitdurchlitten. Deshalb, so Thieß, seien die Vertreter der „Inneren Emigration“ auch eher dazu berufen, Deutschlands Zukunft zu bestimmen als die nichtswissenden Emigranten, die sich im Exil ein falsches Bild hätten machen müssen und denen die Solidarität des Mitempfindens fehle. Unerhört, diese Argumentation – so empfand es Thomas Mann. Geradezu eine Bestätigung, eben nicht nach Deutschland zurückzukehren. Die Antwort Manns vom 10. September 1945 fiel eindeutig aus: „Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe“.

Sollte sich mit Kriegsende in Deutschland alles schlagartig ändern? Die Nazizeit ein böser Spuk? Bekannte meldeten sich plötztlich, ehemalige Freunde und Weggefährten wie Emil Preetorius und der jüngste Bruder Viktor Mann. Thomas Mann mißtraute Deutschland und der eilfertigen Einladung, doch gefälligst zurückzukommen. Selbst im ersten Brief seit langem an seinen Bruder Viktor, Vicco, Mann erwähnt er von Molos Brief – neben einer Skizze seines Alltags und über das Ergehen von Famlienangehörigen. Die Tagebücher dieser Herbstwochen sind voll von Reflexionen über die zweite Ausbürgerung, die dem Remigrationsappell folgte. Golo Mann beobachtete die deutschen Medien von Luxemburg aus und informierte den Vater. Auch die amerikanische deutschsprachige Presse griff das Thema auf. So titelte die „New Yorker Staatszeitung“, wie Mann kommentiert, „tückisch“: „Ich bleibe deutscher Schriftsteller, fürchte mich aber vor deutschen Trümmern“. Gelegenheit, um in der New Yorker Konkurrenzpostille „Aufbau“ einen Leserbrief unterzubringen, der am 2. November mit der Überschrift „In eigener Sache“ erschien. Bis ins Jahr 1947 dauerte diese Kontroverse, an der sich Erich Kästner, der junge Ralph Giordano und Rudolf Augstein beteiligten.

Untätig war Thomas Mann allen politischen Engagements und aller Selbstverteidigung zum Trotz nicht: Ihn beschäftigte dieser Tage „Lotte in Weimar“ und die „Gesta Romanorum“, jene Sammlung von Legenden und Erzählungen, die zu den beliebtesten moralischen Textsammlungen des Hochmittelalters gehörte. Adrian Leverkühn komponierte auf dieser Grundlage eine Vertonung der Geschichte Papst Gregors. Wie sehr Thomas Mann diese Geschichte fasziniert hat, zeigt sein eigener Gregorius-Roman, „Der Erwählte“, aus dem Jahr 1951. Am liebsten, so schrieb Mann am 25. Oktober an seine Gönnerin Agnes Meyer, nähme er Leverkühn die Gregorius-Geschichte ab, „um eine merkwürdige Novelle daraus zu machen“. Dieses Tagebuchnotat verrät zudem, wie weit er bei diesem Roman schon gekommen war – bis zum XXXI. Kapitel nämlich – und welch andere geistigen Sphären er ausmaß, nämlich die mittelalterlicher Legenden und Überlieferung. Dennoch hat sich auch die Kontroverse um die Rückkehr in Thomas Manns Deutschland-Roman „Doktor Faustus“ eingeschrieben.

Man kann oft lesen, Thomas Mann sei versessen auf Titel und Ehrungen gewesen. Als er vom Ehrendoktor des Hebrew Colleges erfuhr, reagiert er unaufgeregt. Selbst die Einladung zum Jahresbankett der „American Friends“ des Colleges lehnte er dankend und mit Verweis auf Arbeitsüberlastung ab. Am 8. Dezember wurde ihm das Ehrendoktorat in absentia zugesprochen. Thomas Mann erledigte allein an diesem Tag zehn Briefe – so eine Zusage, dass das Komitee zur Erinnerung an die Zerstörung des tschechischen Dorfes Lidice am 27. Mai 1942 durch die SS-Schergen des Reinhard Heyderich Thomas Mann als Gewährsmann für ihre Sache anführen dürfe. Kein Zweifel auch hier, auf wessen Seite Thomas Mann stand.

Nicht nur Ereignisse der Tagespolitik wie die Unterstützung der französischen Mehrheitsparteien für Charles de Gaulle, der zum Ministerpräsidenten der Übergangsregierung ernannt wurde, schlugen sich im Tagebuch nieder. Auch scheinbar weit zurückliegende Geschehnisse wie um die Münchner Konferenz vom 1938 beschäftigten Thomas Mann: Franz Halder (1884-1972) hatte eine steile Karriere hinter sich, als er im September 1938 von Hitler zum Nachfolger des Generalstabschefs Generaloberst Ludwig Beck ernannt wurde, der sich gegen die Entmachtung der Wehrmachtsführung gewandt hatte. Erst nach den Verhaftungen des 20. Juli 1944 wurde bekannt, dass Halder und Beck für den Fall einer englischen Reaktion auf die Sudetenkrise Hitler stürzen wollten. In der Tat war Hitler diesem Coup zuvorgekommen, indem er Neville Chamberlain zu Zugeständnissen und territorialen Forderungen bewegen konnte.

Trotz allen Interesses für die politischen Verwicklungen der Vergangenheit und seiner Gegenwart, genoß Thomas Mann das ruhige kalifornische Herbstwetter. Von seinem 1944 bezogenen Anwesen am San Remo Drive lief er zur alten Behausung am drei Kilometer entfernten Amalfi Drive. Zumindest die Straßennamen seines amerikanischen Exils erinnerten an Europa, ließen es in einem milden, mediterranen Licht erscheinen. In Deutschland blieb es trotz der Befreiung vom 8. Mai 1945 vorerst dunkel. Ein geistiger Aufbruch war wenig glaubhaft, solange die verstrickten Mitläufer „ihre“ Wahrheit über die NS-Herrschaft der politischen Hellsichtigkeit Thomas Manns vorzogen.

 

[1] Gemeint ist hier Viktor Mann, den Thomas Mann wegen dessen Ehefrau mit Nachnamen Kröger als K. tituliert und ihn somit aus dem Familienkreis der Manns verbannt. Dieses Detail mag vielleicht seine Skepsis gegenüber dem Bruder zum Ausdruck bringen, der während der NS-Zeit steile Karriere machte und gutbürgerlich in München lebte.

Aus: Thomas Mann: Tagebücher 1944-1.4.1946. Herausgegeben von Inge Jens. Frankfurt a. Main: S. Fischer Verlag 1986, S. 266f.

Kurioses Hochgefühl der Königlichen Hoheit nach Beendigung des „Krull“

09.10.1954

Kilchberg, Sonnabend den 9. X. 54
Nach 8 Uhr [auf]. Im Morgenblatt Webers Besprechung des „Krull“ unter dem Titel „Ein Meisterwerk T.Ms.“ [1] Hohes Lob, bestrebt, die innersten Fiebern des Buchs anzurühren. Etwas nebelhaft im Ausdruck, aber liebevoll. – Gefühl, in ein Festjahr eingetreten zu sein. Wunderlich, wie ich gestern im Theater und Hotel (die Angestellten!) selbst ganz wie eine Königliche Hoheit behandelt wurde und so reagierte. Wunderlicher Lebenstraum, der bald ausgeträumt sein wird. Kurios, kurios. Das habe ich früh gesagt und werde es zuletzt sagen. – Völlig unfähig zu arbeiten. Den ganzen Tag krank. Nachmittags im Bett. Qualvolle Erregung statt Ruhe. Aber abends ins Theater, was mich eher zerstreute und belebte. „Leocadia“ von Anoui[l]h, halb träumerisches, drolliges Spiel, lose, wie man es heute so macht; einige von den Darstellern amüsierten mich, ein gewisser Alfons Höckmann, etwas Provinz-Romeo, spielte den Prinzen. Wiedersehen mit der alten Terwin-Moissi. Sehr begabt offenbar ein gewisser Dickow als Bistro-Wirt, der in Luzern ein vorzüglicher Sosias gewesesen sein soll, wie Dir. Wälterli [2] erzählte. Kaffee in der Pause mit Schweizer und Trebitsch.

 

Thomas Mann erlebte den goldenen Herbst wie ein Fest. Er genoss die eingefahrene Ernte seines Schaffens: so die Vorpremiere von „Königliche Hoheit“, Dreharbeiten an den „Buddenbrooks“ und das Erscheinen und die lobende Resonanz auf seinen fortgesetzen „Krull“-Roman. Erika Wirtz legte eine Dissertation zur Ironie im „Zauberberg“ vor – akademische Weihen auch für den Autor. In diese Tagen des Einbringens saß Thomas Mann dem Bildhauer Gustav Seitz Modell und dachte „über das Aufstellen meiner Büste in Stein auf einem städtischen Platz in Deutschland“ nach. Der Maler Wolf Ritz porträtiert ihn in Öl. Tage des Triumphs über das Erreichte: „Eigentümlich beruhigend über den Tod und die Existenz festigend. Tod, wo ist dein Stachel“, fragt Thomas Mann am 17. Oktober.

Am 2. Oktober 1954 bekam Thomas Mann vom S. Fischer Verlag die ersten zehn Exemplare seines neuen Buches geliefert, das pünktlich zur Buchmesse erschien. Der Verlag meldete 10.000 Vorbestellungen und eine hohe Pressenachfrage. In den kommenden Tagen war Mann angespannt, wie die Kritik seinen „Felix Krull“ wohl aufnehmen würde. Immerhin hatte er die 1911 erstmals in einem Auszug erschienene Hochstaplernovelle zu einem pikaresken Roman ausgebaut, der dennoch fragmentarisch blieb. Würde man die Nähte spüren, die die Jahrzehnte zusammenschweißen? Den Anfang machte eine applausspendende Besprechung von Werner Süskind in der „Süddeutschen Zeitung“. Er nennt das Hopflé-Kapitel „genial“. Thomas Mann ist zufrieden über die „gute Presse“ und liest diese Kritik sogar mehrfach am Tag. Dass Werner Webers (1919-2005) Rezension in der „Neuen Zürcher Zeitung“ positiv ausfallen würde, hatte der Feuilletonchef Thomas und Katia Mann bei einem Abendessen bereits persönlich versichert. In den kommenden Tagen erschienen weitere feiernde Besprechungen, die Mann in seinem Tagebuch erwähnte: durch Willy Haas in der „Welt“, durch Alexander Frey im „St. Galler Tagblatt“, in der „Tat“ durch Max Rychner.

Das Hochgefühl dieses Tages speist sich zum Teil aus dieser Genugtuung über die positive Aufnahme des Buches. Thomas Mann stand noch ganz unter dem Eindruck der Premiere der Verfilmung von „Königliche Hoheit“. Unter Applaus sei er mit Tochter Erika in die Ehrenloge des Orient-Kinos gebeten worden. Das Tagebuch berichtet von Ovationen. Danach standesgemäßer Presseempfang im Hotel Baur au Lac. Zum krönenden Abschluss gab es Kaviar in der Mann’schen Villa in Kilchberg. Thomas Mann mutet dies märchenhaft an – er selbst als Königliche Hoheit. Er wurde als solche angesehen und er reagierte standesgemäß. Man spürt die Genugtuung über die Ehrungen, die ja immer halb Maskerade und Theater sind.

Im Zürcher Schauspielhaus war Thomas Mann im Oktober häufig zu Gast, auch beschäftigte er sich wieder einmal mit Schillers Dramen: Er las „Die Räuber“, „Die Jungfrau von Orleans“ und „Kabale und Liebe“ – in nur einer Woche. Er sah zu dieser Zeit Molières „Die Schule der Frauen“, „Die tiefe See“ von Terence Rattigan, Shakespeares „König Heinrich IV.“ und eben Anouilhs „Leocaida“ aus dem Jahr 1940 in der Inszenierung von Werner Kraut. Die arme Pariser Hutmacherin Amanda verliebt sich in den schwermütigen Prinzen Albert. Albert hatte sich in die Operndiva Leocaida verguckt, die bei einem Autounfall starb und einen ratlosen Albert hinterließ: „träumerisch, drollig“ und in lockerer Szenenfolge. Als Prinz faszinierte Thomas Mann der 31-jähige Alfons Höckelmann, den er bereits in Shakespeares „Was ihr wollt“ bewundert hatte. Am Rande der Aufführung hatte Mann Erkundigungen über ihn, über Hans-Helmut Dickow und Johanna Terwin-Moissi, die in der Rolle der Herzogin Johanna gastierte, bei Direktor Oskar Wälterlin eingeholt. Die beiden erwähnten Gesprächspartner der Theaterpause sind alte Bekannte: Seit 1919 kannten die Manns den fleißigen Theatergänger Siegfried Trebitsch (1869-1956) und seine Frau Antoinette. Der Wiener Schriftsteller, zu dessen 85. Geburtstag Mann erst vor wenigen Tagen gratulierte, hatte sich als Übersetzer Bernhard Shaws einen Namen gemacht. Richard Schweizer (1900-1965) war Präsident des Verwaltungsrats des Zürcher Schauspielhauses und mit der Familie Mann seit dem ersten Zürcher Exilaufenthalt bekannt – eine muntere Theatergesellschaft, die auf Thomas Mann belebend wirkte.

Trotz des Hochgefühls ist die Stimmung Thomas Manns getrübt: Er fühlt sich krank, unfähig zu arbeiten, qualvoll erregt. Die Gesundheit und somit das Alter machten sich gelegentlich bemerkbar. Mann weiß um die Endlichkeit seines durch Höhepunkte der Erfüllung gesegneten Lebens: Bald ist der wunderliche Lebenstraum ausgeträumt. Wenige Tage später wähnt er den „Stachel des Todes“ wieder in weiter Ferne und genießt Sonnentage und die eingebrachte literarische Ernte. Im Bewusstsein der Kuriosität des eigenen Lebens verweist Thomas Mann darauf, dass er schon immer an diese merkwürdige Existenz, an das Wunderbare, geglaubt habe – ganz wie es auch der alte Senator Buddenbrook sagt: „Kurios, kurios“. Mit der Weiterentwicklung und dem vorläufigen Abschluss des „Krull“ erfuhr sein Leben eine Rundung, die ihn tief befriedigte. Kein Wunder, dass er Zeit für die eigene Monumentalisierung durch den Bildhauer Gustav Seitz (1906-1969) fand, dessen Büste er besonders lobte. Seit dem 4. Juli 2007 steht ein Abguss auf einem öffentlichen Platz in Berlin.

 

Aus: Thomas Mann: Tagebücher 1953-1955. Herausgegeben von Inge Jens. Frankfurt a. Main: S. Fischer Verlag 1995, S. 282f.
[1] Werner Weber: Ein Meisterwerk Thomas Manns. Hinweis auf die „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“. In: Neue Zürcher Zeitung vom 6. Oktober 1954, Bl. 6/1
[2] Die Tagebuchausgabe von Inge Jens korrigiert zwar den falsch geschriebenen Anouilh, lässt aber Thomas Mann das verschluckte „n“ in Oskar Wälterlins Namen durchgehen.

Mit Tochter Erika auf Urlaub und im Exil

23.08.1952

Gastein, Sonnabend den 23. VIII. 52
7 Uhr Bad. ½ 9 Frühstück. Toast statt des Semmelteigs. Der Himmel heller. Befinden frischer. Beschäftigung mit dem Manuskript. Beim Badearzt; Geschwätz und Verordnungen. Hauptsache sei, daß mein Gewicht stabil bleibe, was, fürchte ich, bei meinem schlechten Appetit, den Kau- und Schluckschwierigkeiten schwer zu erreichen sein wird. – Mit Reisiger etwas gegangen. Sonne. Mit ihm im Freien gegessen („Laube“) – Allerlei beschwerliche Post, teils absurd. Besuchs-Anmeldungen. Copie della relazione concernente il Premio Feltrinelli. – Nachmittags im Bette geschlafen. Nach dem Thee Reisiger zur Vorlesung des Kuckuck-Kapitels aus dem Krull. Die Wirkung ziemlich lahm. Erika dazu. Hatte schmerzliche Auseinandersetzungen gegeben zwischen ihr und K. über die Trübungen der jüngsten Tage: Golo, die Lichnowsky, Lasky, ihre Schärfe, düstere Übertreibungen, Bitterkeit, das unduldsame Verhältnis zu ihren Geschwistern. Unmutig und kummervoll macht sie sich das Leben zur Qual, ist aber lebendig und hilfreich aktiv, liebreich gegen uns. Abendessen bei ihr am von ihr reservierten Tisch im „Gasteiner Hof“. Staunen über Reisigers gesegneten Appetit und Neid darauf. Ich mag fast nichts als Suppe, Eis, Kaffee. – Zuletzt etwas in Dostojewskys „Jüngling“.

 

Im Sommer 1952 war Thomas Mann nicht nur in der Kur, er war auf Wohnungssuche in der Schweiz. Im rauhen Klima der McCarthy-Zeit in den USA gerieten alle kritischen Geister in den Verdacht des Philokommunismus, so auch Thomas Mann und seine Familie. Er hatte zu diesem Zeitpunkt mit dem alten Kontinent seinen Frieden gemacht, auch mit Deutschland, das er im August besuchte – sogar München und seine alte Villa am Herzogpark. Von dort führte es Thomas Mann und die Seinen nach Salzburg zu den Festspielen, danach nach St. Wolfgang, weil die Familie seines Sohnes Michael dort weilte. Nach einen Besuch von Straussens „Die Liebe der Danae“ entschließt er sich zu einer Kur in Badgastein und bezieht vom 20. August bis 10. September Quartier im „Haus Gerke“, wo er Thermalbäder nimmt und eine strikte Kur verordnet bekommt. Es muss ein verregneter Sommer gewesen sein: „Der Regen nachts heftiger. Frösteln“. Tags darauf plagte ihn bereits der Rachenraum, er konnte kaum etwas zu sich nehmen, nicht einmal die geschätzten Semmeln, nur weichen Toast. Ein alarmierendes Signal sei der Gewichtsverlust, den der Badearzt feststellte. Viel gab Mann aber nicht auf den ärztlichen Rat: „Geschwätz“. So nimmt man ihm den Futterneid beim Dinner ab. Er, der Genießer, brachte nur Suppe herunter. Bald sollte er sich von dieser Entzündung erholen und wieder lustvoller zulangen, auch ganz ohne ärztlichen Rat: „Aß mit Appetit gebratenen Fisch u. einen Pfannkuchen“, heißt es am 25. August. Zufrieden war er mit dem Gasteiner Kuraufenthalt jedenfalls nicht: „Die Führung ist habsüchtig. Laues Wasser und man ließ uns frieren.“

Im Gegensatz zu anderen Urlaubsaufenthalten war dieser von „völliger Zurückgezogenheit“ geprägt, nur wenige Besucher machten die Aufwartung. Erkannt wurde er jedoch von vielen Kurgästen: „ein Nachteil des Ruhms“. Einzig Hans Reisiger, „Reisi Boy“, leistet ihm eine Woche Gesellschaft und sah Mann täglich – so auf einem Spaziergang zum Garten des Restaurants „Friedrichslaube“. Dem Schriftsteller und Übersetzer vertraute Mann, gerade in seiner Einschätzung des politischen Nachkriegsdeutschlands. Mann fand den etwas täppischen Reisiger sympathisch, der am Gasteiger Bahnhof vor den Augen Thomas Manns „einen spitzbärtigen älteren Herren für mich gehalten und begrüßt hatte“. Als Gesprächspartner schätzte Mann „Reisi, erheiternd nach alter Art“.

Auf Basis dieser Vertrautheit stellte er ihm nach dem obligaten Tee das Kuckuck-Kapitel aus dem dritten Buch des „Felix Krull“ vor: Urpferdchen, Paläontologie, Weltgeschichte – Thomas Mann hatte zahlreiche Fachbücher für die Speisewagenausführungen Kuckucks gewälzt und sich erneut in einer Form „des höheren Abschreibens“ geübt. Die Ausführungen des Professors sind denn auch etwas langatmig, das entworfene Weltbild komplex. Entsprechend wenig begeistert zeigte sich wohl Reisiger. Mann hatte den Hochstaplerroman, der seit 1911 verschiedene Publikationsstadien erreicht hatte, jedoch unvollendet geblieben war, wieder aufgenommen – zur Rundung des Oeuvres, ein wenig aus Verlegenheit. Zur Zeit des Gasteiner Aufenthalts arbeitete Thomas Mann zwar regelmäßig, doch etwas gequält „am 1. Dialog Mutter-Tochter“ in der Erzählung „Die Betrogene“. Parallel zur eigenen Arbeit las er einen seiner Lieblingsschriftsteller: Dostojewski, „Jüngling“, einen der selten gelesenen Romane des russischen Dichters.

Zur wenig erfolgreichen Lesung des Kuckuck-Kapitels gesellte sich Erika Mann hinzu, die das elterliche Ehepaar auf der Kurreise begleitete. Nach anfänglich großen Erfolgen als Vortragsreisende und gefragte Interviewpartnerin geriet Erika Mann zunehmend in den Verdacht einer kommunistischen Einstellung. Sie galt als verdächtig, verlor das berufliche Betätigungsfeld und mit dem Tod ihres Bruders Klaus im Mai 1949 den wohl wichtigsten Lebenspartner, der ihr Inspiration und Antrieb gab. Ihre Hoffnungen auf einen demokratischen Neuaufbruch nach dem Krieg waren getrübt. Erika Mann war mit Mitte vierzig verbittert, aggressiv, sarkastisch. „Zu viel Charakter macht ungerecht“, sagte Thomas Mann über sie, deren „dunkle Unversöhnlichkeit“ nicht nur die Familie belastete.

Erika Mann fand ihre Rolle als „public relations officer“ oder „Tochter-Adjutantin“ des Vaters, der ihren Rat schätzte und der ihr viele praktische Tätigkeiten wie Reiseorganisation, Vertragsverhandlungen oder die kalifornischen Hausveräußerung überließ. Seit dem Abschied von den USA war Erika Mann nicht von der Seite der Eltern gewichen, was zu Konflikten führte, insbesondere mit der Mutter, mit der es auch an diesem Tag Streit gab – und ein Versöhnungsessen im „Gasteiner Hof“. Vorangegangen war diesem Streit der scharfe Umgang mit ihrem Bruder Golo. Im Organisator des Berliner Friedenskongresses Marvin Lasky vermutete sie einen „amerikanischen Agenten und Spion“. Auch moquierte sich Erika über Golos Umgang mit Eleonore von Lichnowsky, die er seit seiner Heidelberger Studentenzeit schätzte. Sie arbeitete als Schriftstellerin und Sozialwissenschaftlerin in Peking und Rom und bot Erika Mann offenbar Paroli. Selbst Thomas Mann war die „sonderbare pädagogische Ereiferung der Gräfin-Professorin“ etwas zu viel. Erika Mann machte mal gute Mine, explodierte, zerstritt sich leidenschaftlich. Offenbar führte dieses aufbrausende Verhalten zu einer Unterhaltung zwischen Mutter und Tochter. Niemand lässt sich gern sagen, er oder sie mache sich das Leben schwer.

Die Gasteiner Szene war nicht nur ein einfacher Familienstreit. Sie war Folge des Exillebens, das die Familie Mann auch 1952 in ihrer Abwendung von den USA weiterlebte. Erika Mann war heimatlos und ohne berufliche Perspektive. Das Exil sollte auch im Sommer 1952 nur vorläufig in Erlenbach bei Zürich und später in Kilchberg enden. Auch die schweizer Jahre waren letztlich Exiljahre, die Manns permanente Reisende.

 

Thomas Mann: Tagebücher 1951-1952. Herausgegeben von Inge Jens. Frankfurt a. M. 1993, S. 260f.
[1] Exemplare eines Zeitungsberichtes über den Preis des mailänder Verlagshauses Feltrinelli. Der Internationale Antonio Feltrinelli Preis ist der höchste Italienische Wissenschafts- und Kulturpreispreis. 1952 wurde er erstmals vergeben und ging in der Rubrik „arte litteraria“ an Thomas Mann.

Sanary-sur-Mer: „Dies halbe Jahr scheint mir recht schnell vergangen“

19.08.1933

Sonnabend den 19. VIII.
Schon wieder ein Wochenende und Vermehrung der Spaziergänger auf der Colline. Die Zeit vergeht außerordentlich schnell hier. Dies halbe Jahr im Ganzen scheint mir schnell vergangen, und sechs solche Zeitspannen etwa, wenn ich 3 Jahre für eine Periode rechne, der rasch zu anders Geartetem leiten muß, scheinen mir gar nicht schwer zurückzulegen.
Zeitig auf und gebadet. Am ersten Potiphar-Kapitel weiter geschrieben.
K., Gott sein Dank, fieberfrei, aber noch erkältet [1].
Beidlers aus Berlin melden ihre Ankunft an der Küste an. – Franco Schwarz [2], Mailand, zitiert mir mein Wort von dem Durchschimmern der eigentlichen Bestimmung der Gotteskinder durch Leiden und Qual. – Brief vom Budapester „Athenäum“ über den Stand der Übersetzung. Die überstarke Verklebung läßt erkennen, daß der Brief in Deutschland geöffnet worden.
Das „Tagebuch“, das ich nachmittags im Garten las, berichtet von anderen solchen Fällen, die natürlich Rechts- und Vertragsbrüche sind.
Brief von Feist, der über mein Außenbleiben das Übliche sagt (in Frankreich aufgegeben), aber Möglichkeiten sehen läßt, 15.000 Mark, die bei B. Simon in Berlin liegen u. für verloren gelten, doch noch herauszubringen. Übrigens scheint es, daß 14.000 Mark, die durch die Botschaft in Paris eingetroffen und von denen wir 5.000 frs der Emigrantenfürsorge gestiftet, eine Zahlung Bermanns darstellen.

 

Den Tag begann Thomas Mann wie in den Wochen zuvor mit einem Bad im Mittelmeer. Am 12. Juni 1933 war Thomas Mann in die Villa „La Tranquille“ nach Sanary-sur-Mer übergesiedelt, hatte sich ein Peugeot Cabriolet gekauft und neu eingekleidet. Das Dienstmädchen Maria Ferber war von München nachgekommen. Er las Tolstoi und Stifters „Witiko“. Der Aufenthalt an der Côte d’Azur war jedoch keine willkommene Sommerfrische, er bildet die erste Station des Exils der Familie Mann. Über Amsterdam und Paris führt zunächst eine Frühjahrsreise Ende Februar zum geplanten Skiaufenthalt in Arosa. Aus dem Urlaub sollten die Manns nicht wieder ins Deutsche Reich zurückkehren. Sein Vortrag „Leiden und Größe Richard Wagners“ wurde zum Vorwand genommen, ihn erst intellektuell, dann aber auch de jure auszubürgern. Umso mehr freute ihn der Austausch mit Richard Wagners Enkel Franz Wilhelm Beidler aus der verstoßenen Isolde-Familie (1901-1981). Beideler hatte in der Zeitschrift „Melos“ einen Artikel zum 50. Todestag Wagners publiziert, der Manns Wagnerbild stützt. In Sanary gehörten sie für einige Wochen zu den geschätzten Hausgästen im neuen Heim.

Ein halbes Jahr zuvor hatte Thomas Mann sein Haus in der Poschingerstraße verlassen. Er zeigt sich gleichmütig und ausgeglichen, rechnete sich aus, das hielte er schon auch noch etwas länger durch, galt Hitler doch damals als eine Übergangserscheinung, der nur wenige politische Stabilität zugetraut hätten. Nicht ganz verrät Thomas Mann, ob er dem Mailänder Ingenieur Franco Schwarz zustimmen kann, der die Emigration zur göttlichen Auszeichnung stilisiert. Irgendwie scheint ihn die Vorstellung beeindruckt zu haben.

Bereits im Februar begann der Exodus des Mann’schen Haushalts aus der Poschingerstraße: Bücher, Manuskripte, Tagebücher. In einem Koffer, den der den Nazis zugeneigte Chauffeur Hans Holzner dem Braunen Haus anzeigte, befanden sich Tagebücher und das Typoskript von „Joseph und seine Brüder“. Wie durch Zufall wurde der Koffer freigegeben. Das Haus wurde an eine amerikanische Familie namens Taylor vermietet, die sich über den schleichenden Möbelverlust bei deutschen Stellen beschwerte. Während Erikas Aufenthalt fanden sogar Besichtigungstermine statt. Möbel und Hausrat sandte nämlich Freund René Schickele als französischer Staatsbürger nach Badenweiler. Thomas Manns Freundin Ida Herz, die auf der Durchreise nach Garmisch war, rettete die Handbibliothek für den „Joseph“ nach Basel, auch Golo und Erika Mann brachten zahlreiche Gegenstände in Sicherheit. Am 17. August seien mehr als 40 Kisten, fast die ganze Bibliothek, das Silber, das Porzellan und die Platten in Zürich eingetroffen, heißt es im Tagebuch. Erst am 25. August wurde das Haus schlussendlich beschlagnahmt und von SA-Posten bewacht, sodass der Abtransport ein Ende fand. „Die Vorstellung, daß ich in absehbarer Zeit wieder zwischen meinem Schreibtisch und Lederfauteuil wohnen und das Grammophon wieder haben werde, ist angenehm, ja erheiternd“, so Thomas Mann erleichtert.

Schwieriger stellt sich die finanzielle Situation dar: Hans Feist war zu diesem Zeitpunkt, da auch Golo Mann aus Deutschland geflohen war, neben Rechtsanwalt Valentin Heins der einzige verlässliche Sachwalter Thomas Manns, bei dem auch noch Hausrat und Bücher einquartiert waren, die jedoch am 17. August beschlagnahmt wurden und sich nach dem Weltkrieg in diversen Münchner Bibliotheken wiederfanden. Der Anwalt sollte beim Münchner Finanzamt das Paradox ergründen, wie es seien könne, dass Mann als expatriierter Ausländer dennoch Steuern zu zahlen habe – Thomas Mann habe sich durch sein Fernbleiben des „Wirtschaftsverrats“ schuldig gemacht, so die Behörde.

Wie rettet man ein Vermögen? Erst sollte sogar eine Scheinhochzeit der jüngsten Tochter Monika die Wertpapiere im Wert von 100.000 RM retten. Bereits die in der Schweiz deponierten deutschen Goldpfandbriefe konnten nur mit imensem Verlust verkauft werden. 65.000 RM hob Golo Mann in München von der Bank ab und ließ sie über den Kurierdienst der französischen Botschaft mit Einverständnis des Botschafters in Berlin, François-Poncet, überführen, zu dem Golo Mann über seinen Freund Pierre Bertaux Zugang hatte. Am Tag des Tagebucheintrags kam über diesen Weg eine weitere Zahlung, die 14.000 RM Tantiemen des Verlegers, an. Materialismus und Raffgier kann man den Manns übrigens nicht vorwerfen. So kommentierte Mann den Verlust seines Hauses damit, dass manch andere mehr verlieren würden und spendete an andere in Not geratene Emigranten. Auch in den USA sollte er sich häufig auch finanziell für Kollegen einsetzen. Dass die Familie zu Beginn der Exilzeit „so gut oder so schlecht wie gar kein Geld gehabt“ habe, wie es Erika Mann häufig darstellte, trifft jedoch auch nicht zu.

Am meisten sorgt sich Thomas Mann denn auch um seine Manuskripte und die für das Schreiben des Joseph-Romans notwendige Handbibliothek. Am „Joseph“ arbeitete er beständig und war an Resonanz interessiert: Nach dem morgendlichen Bad hatte Thomas Mann am Potiphar oder „Zwergen“-Kapitel weitergeschrieben, so auch an diesem Tag. Am Abend des 19. hatte er zwanzig Personen zu einer „Garten-Geselligkeit“ eingeladen, zu der auch der deutsch-französische Schriftsteller Yvan Goll hinzustieß. „Ich las auf der kleinen Terasse sitzend, das bei diesen Gelegenheiten als Podium dient, ‚Jaakobs Hochzeit’“. Dieser Tage sah Thomas Mann die Druckfahnen und Revisionen durch, die er am 19. August an seinen Verleger Bermann Fischer nach Berlin sandte und bei dem er sich über die Ausgestaltung des Buches erkundigte. Über den Verleger hatte Thomas Mann sich in diesen Tagen geärgert, weil dieser ihn zum Eintritt in die Reichsschrifttumskammer und zur Unterzeichnung eines Loyalitätsrevers aufforderte. Mann entschloss sich, diese Schreiben zu ignorieren. Auch forderte Fischer ihn zu einer Rückkehr nach Deutschland auf, was Mann mit den Worten „törichter, eigennütziger, willentlich unwissender Mann“ quittierte. Noch drei Jahre sollte die Schaukelpartie dauern, bis Mann akzeptierte, dass seine Bücher im Deutschen Reich nicht mehr erscheinen würden und der Verleger sich damit abfand.

Mag er sich noch so gelassen und in Ferienstimmung geben – Thomas Mann beobachtete genau, was im Deutschen Reich vor sich ging. So berichtete Leopold Schwarzschilds in Amsterdam und Paris publiziertes „Das neue Tagebuch“ von Völkerrechtsverletzungen – Verstöße gegen das Postgeheimniss waren da weniger dramatisch. In Dachau wurde im Sommer 1933 das erste Konzentrationslager für Regimegegner aufgebaut. Thomas Mann tat recht daran, dem Deutschen Reich nun nicht mehr zu trauen. Aus einem halben Jahr Exil sollte letztlich ein lebenslanger Zustand werden.

 

[1] Am 18. August vermerkte Thomas Mann, seine Frau Katia sei erkältet und etwas fiebrig im Bett geblieben. Wenige Tage später wurde eine Mittelohrentzündung diagnostiziert. Vielleicht hat sie sich auf der Gartenparty vom Vortag verkühlt.
[2] Alberto Franco Schwarz war nach Beendigung seines Studiums als Ingenieur nach Teheran gegangen, um Konstruktionsarbeiten für die Bahnlinie Teheran-Basra durchzuführen. Seine junge spätere Frau Andrea Leppmann aus Berlin war 1933 der Verfolgung der Nationalsozialisten ausgestezt und floh zu ihrem in Teheran als Ingenieur tätigen Bruder Andreas, wo sie Schwarz kennenlernte. 1937 heirateten sie in Mailand und wanderten später in die USA aus. Die genaue Verbindung von Schwarz zu Thomas Mann ist nicht zu eruieren, verbunden hat sie offenbar die Aversion gegen die Nationalsozialisten und das Exil.

„Und an Oswald Kirsten denkst Du garnicht mehr, Doktor?“

05.08.1919

Dienstag, den 5. VIII. Glücksburg.

Die Geselligkeit bei Schellongs gestern nach dem Abendessen verlief nicht weiter unangenehm. Außer Fischers und den Wirten waren das hübsche Kinderfräulein, Flake, Baron Schenk und Ex-Minister Breitscheid zugegen. Letzterer: Exterieur 1830, lang, etwas süffisant, aber nicht übel. Internationalismus der kapit. Bourgeoisie. In Oberschlesien sowohl wie im Rheinland optieren sie gegen das Deutschtum. Merkwürdige Thatsache: Die Amerikaner haben die kais. Werft in Wilhelmshafen angekauft, Deutschland wird eine Entreprise der anderen, eine Türkei. Es gab Blätterteig-Gebäck u. Theepunsch, der sich als bekömmliches Getränk erwies. Man besah Menzel’sche Farbskizzen [1], englische Kunstbücher, Farb-Reproduktionen nach Turner[2], deren zarter Impressionismus mich erfreute. Später zu Bette, von Fischer beständig tituliert. – Vom jungen Kirsten hatte ich gestern mehrfach unmittelbare Eindrücke. Er zeigte Photographien am Nachbartisch, wobei ich ihn sprechen hörte, mit ziemlich tiefer Stimme u. stark Hamburgerisch, und seine Hand sehen konnte. Bis auf die mißförmige Nase ist sein Gesicht schön und fein. Er scheint eine Neigung zur Absonderung und zum stillen Sitzen zu haben (am Tennisplatz). Wenn ich mich nicht irre, so hörte ich ihn Oswald nennen. Er hat mich, auch beim Passieren, noch niemals angesehen. Wie mir scheint, vermeidet er es aus Diskretion. Hier wäre denn also das „Nie veraltende“, das sich mit Glücksburg „eng verzweigen“ wird, der obligate „Lenz“, der sich nur halb – (halb?) – entfaltet. – Schlief ein wenig unruhig, phantastisch und wachte als Doctor auf. Karte von Mama [3]. Begann nach dem Frühstück zu packen.

 

Die Revolution brach im November 1918 an der deutschen Küste aus. Als Thomas Mann vom 15. Juli bis 6. August dort seine Sommerfrische verbrachte, waren die Auswirkungen dieses Erdbebens noch zu spüren. Er besuchte ein deutsches Torpedoboot mit Matrosen. In Flensburg spielte die Kapelle eines Kriegsschiffes und endete mit einem „Hoch“ auf Deutschland. Die Gäste verabschiedeten die Soldaten mit „Hurra“: „Widerspruchsvolle Zustände“, wie Mann feststellt. Auf der Abendgesellschaft des 5. August trifft Thomas Mann mit Rudolf Breitscheit zusammen. Der Sozialdemokrat wechselte 1917 zunächst zur USPD. In den tollen Novembertagen wurde er preußischer Innenminister – allerdings nur bis Januar 1919. Die junge Republik war noch wackelig. Im Gespräch mit diesem Gast ging es freilich um Politik: Über die internationale Bourgeoisie und die Seperatisten im Rheinland und in Schlesien, die sich von der Republik abspalten wollten, weil diese Recht und Ordnung im Land nur schwer durchsetzen konnte. Dann der Ausverkauf der deutschen Industrie und die Balkanisierung der Politik – Reizwort Türkei, der kranke Mann am Bosporus genannt. Vor wenigen Wochen hatte Thomas Mann die Lektüre von Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“ beendet – „das wichtigste Buch!“. Die Mischung von sozialistischen und nationalistischen Vorstellungen schwingt auch im Gespräch dieses Abends mit.

Dabei handelt es sich nicht um einen politischen Klub, sondern eine heitere Abendgesellschaft: Bestehend weiterhin aus dem ehemaligen Offizier zur See Schellong und seiner Frau – „ein G. Hauptmann-Typus [4]. Seine Frau spitz, norddeutsch, anämisch, etwas von Lula [5]“ –, dem Verleger Gottfried Bermann Fischer mit Gattin und der kleinen Hilde, dem „zweifellos etwas dummen, junggesellenhaften melancholischen“ Baron Schenk sowie dem Kinderfräulein, das ihm schon vorher als „hübsch, hamburgisch-überseeisch“ aufgefallen war. „Flake nicht schlimm“ hieß es über den Erzähler und Essayisten Otto Flake, Autor des S. Fischer Verlages und mit dem Verlegerpaar befreundet. Wenige Tage später hat Mann Gefallen an seinem Kollegen gefunden: „Lackel mit dem Gedankenbestande der literarischen Gegenwart“.

Thomas Mann scheint dem Abend gegenüber skeptisch gewesen zu sein und konnte sich tags zuvor wenig unter „Theepunsch“ vorstellen, der dann doch gemundet hat: „bekömmliches Getränk“. Man vertrieb sich die Zeit mit dem Betrachten von Reproduktionen von Menzel und Turner, dessen romantische Ader Thomas Mann genauso gefiel wie seine Urlaubslektüre: Eduard von Kayserling. Gemeinsam verbrachte die bunt zusammengwürfelte Urlaubsgesellschaft die Tage: Dampferfahrt nach Flensburg, Ausflüge nach Schloss Augustenburg, Appenrade und Gravenstein standen auf dem Programm. Man saß beim Roulett zusammen, spielte Domino und hörte Frau Fischer bei Gesangsimprovisationen zu, trank Schokolade und Grog, denn das Wetter war „wechselnd, immer feucht, durchgehend kühl, ja kalt“. Thomas Mann kümmerte sich in Anflügen väterlicher Gefühle um die kleine Hilla. Er selbst war allein in den Urlaub gefahren, sandte Katia Kakao und eine Torte, empfing Briefe der Kinder, insbesondere von Monika.

Bereits am 24. Juli fielen Thomas Mann die Söhne des Hamburger Reeders Kirsten auf: der eine habe einen Armin-Martens-Schädel. Er beobachtete „die beiden jungen Leute in ihrem Park Ball spielen“ mit „großer Neigung“. Tags darauf wächst diese sich zur Schilderung einer Tagebuchpassage aus: das Blonde, die tief beieinanderliegenden blauen Augen, der ganze Körperbau, den er detailliert schildert erinnert ihn an seinen Jugendfreund aus Lübecker Zeiten, an seine Jugendliebe „A.M.“: Armin Martens. Am 4. Juli beschreibt er „den ‚meinen’“ als zarter und feiner als seinen Bruder, der ganz ein „Schiffertypus“ sei. Nicht nur, dass im Tagebuch mehrfach vom „Tonio Kröger“ die Rede ist, in dem ein solches zartes Jungenverhältnis beschrieben wird – Thomas Mann hat sich wieder in die „Aschenbachpose“ begeben: Er beobachtet, genau, schildert und schwärmt: „Tonio Kröger, Tonio Kröger. Es ist jedesmal dasselbe und die Bewegung tief“.

Am 4. August war es dann soweit: „unmittelbare Eindrücke“ und er konnte dem Schwarm einen Namen geben – Oswald Kirsten. Thomas Mann hörte die Stimme, examinierte Hand, Gesicht und Nase. Er beobachtete das Verhalten des Jünglings auf dem Tennisplatz. Er weicht dem Blick des älteren aus. „So viel Gefühl für jemand, den er offenbar das erste Mal aus der Nähe sah!“, so Biograph Hermann Kurzke, der Thomas Mann für die Zeit nach der Revolution ein „zaghaftes Coming Out“ bescheinigt. Er hat auch die rätselhafte Formulierung vom „Nie-Veraltenden“ und vom „Lenz“ entschlüsselt – eine Anspielung auf ein Gedicht August von Platens, der in Venedig eine ähnliche Erfahrung machte. Wieder Venedig, wieder Strand und Meer, wieder das Gefallen an der Beobachtung.

Noch Wochen später erinnert sich Mann im Tagebuch der Schwärmerei, die mit seiner Abreise am Tag nach unserem Gesellschaftsabend vorbei sein wird: „Und an Oswald Kirsten denkst Du garnicht mehr, Doktor?“ Nach umruhigem Schlaf wachte Thomas Mann auch am 5. August als „Doctor“ auf – er hatte keinen Albtraum als Arzt. Am Tag zuvor hatte der Bonner Literatur- und Theaterwissenschaftler Berthold Litzmann auf Betreiben von Thomas Manns Freund Ernst Betram am 3. August eine unverhoffte Ehrenpromotion veranlasst. Dies bekannte er seinem Verleger Bermann Fischer, der dies mit Champagner feierte: „Vergnüglichkeit und Titulierung“. Auch am 5. August wurde er von Bermann Fischer „beständig tituliert“, halb zum Spott. 1936 sollte dieselbe Universität dem Emigranten den Ehrentitel aberkennen. Im Tagebuch für den kommenden Tag vermerkt er jedoch stolz, bei der Anmeldung im Berliner Hotel Excelsior habe er erstmals den Titel verwendet. Wie lange mag ihm der Schwarm Oswald Kirsten noch nachgegangen sein?

 

Thomas Mann: Tagebücher 1918-1921. Herausgegeben von Peter de Mendessohn. Frankfurt a. Main, S. Fischer 1979, S. 290.
[1] Adolf von Menzel (1815-1905) gilt als Hauptvertreter des Realismus. Der in Berlin lebende Maler galt als der Maler des Aufstiegs von Preußen. Reproduktionen seiner Bilder waren im deutschen Bürgertum sehr verbreitet.
[2] William Turner (1775-1851) ist der berühmteste Vertreter der Romantik in der europäischen Malerei. Er gilt als Vorläufer des Impressionismus.
[3] Thomas Manns Mutter, Julia Mann, geborene da Silva Bruhns, lebte bis zu ihrem Tod 1923 in Wessing bei München, wohin sie nach dem Tod ihres Mannes Lübeck verlassen hatte. Thomas Mann folgte ihr nach Bayern. Sie verkörpert wie das Kindermädchen der Schellongs aufgrund ihrer brasilianischen Herkunft hanseatische Internationalität.
[4] Der naturalistische Schriftsteller Gerhart Hauptmann (1862-1946) war Thomas Manns größter Konkurrent um literarischen Erfolg. Mann hat ihn häufig kritisiert und in seinen Werken („Das Wunderkind“) aufs Korn genommen.
[5] Thomas Manns Schwester Julia, Lula genannt, galt als aufstiegsorientiert und bürgerlich. Sie hatte den Münchner Bankier Löhr geheiratet. Thomas Mann hat die Schwester, in die Armin Martens verliebt war, „mein weibliches Neben-Ich“ genannt. 1927 nahm sich die Witwe das Leben.

Unklarheit, wie lange dies Dasein währen wird

29.07.1955

Zürich, Freitag den 29. VII. 55
In dem riesigen Kantonsspital bei der Universität und zu ihr gehörig. – So ist denn der schöne Aufenthalt in Noordwijk in dieses Krankheitsabendteuer ausgegangen, die Venenentzündung, die zweifellos als eine verspätete Reaktion auf die Anstrengungen und Aufregungen im Mai u. Juni zu betrachten. – Der Ambulanz-Transport nach Amsterdam und von da im Flugzeug nach Zürich und in dieses Bett erfolgte am Sonnabend den 23. Nun konnte die regelrechte Behandlung des geschwollenen und fiebernden Beines u. der Krankheit im Ganzen beginnen unter Leitung von Prof. Löffler, der noch am Samstag Abend erschien, Obersrzt Essailler, Dr. Arnstein u.a. Schwestern Marti, Heidi etc. Exakte Pflege. Alkohol- und Essigs. Tonerde-Wickel, dazu Penicillin- und blutlösende Injektionen. Gute, ja erstaunliche Fortschritte in diesen 6 Tagen, obgleich mein Mund wund, der Hals geschwollen und entzündet, das Essen Qual u. Mühsal, der Appetit gleich null. K., vormittags u. nachmittags bei mir, versorgt mich mit Ergänzungen für das schlechte Essen. Nachmittags ¼ Stunde sitzend auf dem Bettrande. Die Nächte anfangs sehr schwierig. Abendteuer der Bettschüssel, nie erprobt. Oft große Niedergeschlagenheit. Besuche von Gret und Bibi, den Buben, Golo, Schweizer. Blumen im Zimmer. – Prof. Löffler, sympathische Berühmtheit, etwas Primadonna, aber angenehm. Spricht von Hannos Typhus, der ein Gewand des Todes, nenn das eine sehr gute medizinische Einsicht. – Immer wiederholtes Pinseln des Schlundes und Mundes nach dem Gurgeln. – Rauche kaum, 3 Cigaretten. – Das Wetter kühl u. regnersich. – Füttern der Spatzen. – Las Shaws „Heiraten“ zu Ende. Lese Einsteins „Mozart“. – Lasse mir’s im Unklaren, wie lange dies Dasein währen wird. Langsam wird es sich lichten. Soll heute etwas im Stuhl sitzen. – Verdauungssorgen und Plagen.

 

Als Thomas Mann am 21. Juli in der gemieteten Strandhütte 42 in der niederländischen Sommerfrische Noordwijk aan Zee das „Geleitwort“ zu „Die schönsten Erzählungen der Welt“ im Desch Verlag beendete, schien noch alles in Ordnung. Das gelegentliche Zwacken im Bein entpuppte sich bereits tags darauf bei einem Arztbesuch als Venenentzündung in der Leistengegend: „Tatsächlich war das eine Bein doppelt so dick wie das andere; aber wer kommt denn darauf, die Dicke seiner Beine zu vergleichen!“ Diese Sätze schrieb er fern aller Kränkelei bereits aus der Zürcher Klinik. Dorthin hatte ihn der holländische Internist Dr. Mulder empfohlen, die Abreise stand ohnehin bevor. Mit Linienflug ging es zum Flughafen Kloten, wo er am Rollfeld von Freunden und angehörigen empfangen wurde.

Im Mai hatte Thomas Mann seine Heimatstadt Lübeck besucht, im folgenden Monat wurde sein 80. Geburtstag begangen – Erholung tat wohl not nach diesen Strapazen. Nun mussten alle Pläne aufgegeben werden: Besuche wurden abgesagt, einer württembergischen Blaskapelle abgeschrieben, Journalisten vertröstet, das Tagebuch pausiert vom 22. Juli für eine Woche.

Durch Nachforschungen von Thomas Sprecher und Ernst O. Wiethoff wissen wir, dass die Thrombose, deretwegen Thomas Mann die Niederlande verließ, nicht die Todesursache war. Vielmehr führte eine Ruptur, ein Riss in der unteren Bauchschlagader zum Tode. Am 29. Juli war Thomas Mann hoffnungsvoll, der Zustand hatte sich durch die gute Behandlung gebessert, die die Auflösung der Blutstauung bewirkt hatte. Durch Penizillin und blutlösende Mittel und Wickel führt die Behandlung zum Erfolg. Genau vermerkt er die Behandlung sowie die medizinischen Beteiligten: der Internist und leitende Direktor der Klinik Wilhelm Löffler, André-Ferdinand Esselier und der Assistenzarzt der Privatstation, auf der Thomas Mann in einem Einzelzimmer untergebracht war, Friedrich Arnstein. Der Genesung nützte die zuvorkommene und „exakte“ Pflege durch die emsigen Schwestern, die Thomas Mann eigens erwähnt.

Besuch erhielt er von den nächsten Familienangehörigen, seinem Sohn Michael mit Gattin Gret Moser und den Kindern Frido und Toni sowie von Golo Mann. Von den Freunden erhielt nur Richard Scheizer Zutritt ans Krankenbett. Katia Mann besuchte ihn offenbar so häufig sie konnte und kämpfte gegen das schlechte Essen; sie mag ihm auch sein Tagebuch gebracht haben.

Trotz seiner leidenden Lage und dem Gefesseltsein ans Krankenbett, das er nur kurz für den Rollstuhl verließ, beobachtete er seine Umwelt sehr genau und mit Anteilnahme: die Krankenschwestern, den primadonnenhaften Klinikchef, der ihm Komplimente für die Figur des kleinen Hanno aus den “Buddenbrooks“ machte, das kühle Wetter, aber auch die Spatzen auf dem Fenstersims, die er mit dem schlechten Klinikessen zufriedenstellen konnte. Er ließ es sich nicht nehmen zu rauchen, und seien es drei Glimmstängel pro Tag. Auch gab er sich keiner Lethargie hin, er arbeitete, er las. Alles andere als leichte Kost, die man in Krankenhauskiosken erwerben kann. Stattdessen das Mozartbuch des Musikwissenschaftlers Alfred Einstein, der wie er einst in München lebte und dann in die USA emigierte und an so renommierten Universitäten wie Yale und Princeton unterrichtete. Er las das 1945 erschienene Buch bereits zum dritten Mal. Dann aber auch Heiteres: George Bernhard Shwas Komödie „Getting married“ von 1908 in deutscher Übersetzung. Später kam noch ein portabler Plattenspieler ins Krankenzimmer, das mit vielen Blumengrüßen ausstaffiert war – darunter auch einer vom Kanzler des Verdienstordens Pour le Mérite, der ihm von der Bundesrepublik Deutschland verliehen worden war.

Gegen Ende des Tagebucheintrages sind aller Genesung zum Trotz Zweifel spürbar, vorsichtig formuliert: Er möchte für sich im Unklaren belassen, wie lange sein Leben noch dauert, langsam werde es sich „lichten“. Dies war kein pathetisches Schlusswort an die Nachwelt, es war die Reflexion eines Menschen, der sich weiter Rechenschaft ablegen wollte, Tag für Tag und der am Ende wieder ganz bei seinem Leiden und den Ängsten ist. Sein letztes Tagebuchnotat. Am 12. August 1955 starb Thomas Mann beim Einschlafen, kurz nach 20 Uhr, nachdem er nach seiner Brille verlangt hatte: sehen, beobachten, lesen, leben.

 

Thomas Mann Tagebücher 1953-1955. Herausgegeben von Inge Jens. Frankfurt a. M. 1995, S. 360f.

Franzel: La forza de suo viso

20.07.1950

St. Moritz, Donnerstag, den 20. VII 1950
Gut geschlafen wie auch K.. Bad und Theefrühstück. Ausbleiben von Post, scheinbares Versagen des Dolder-Concierge. Brief an Direktor Kraehenbühl. Unabhängig hiervon die Frage ob Franzl antworten wird. Das Waldhaus, wohin sein Brief gehen würde, schickt getreu. Er wird wohl nicht wissen anzufangen und in seinen Schriftzügen werden ja nicht seine Augen sein, la forza de suo bel viso. – Michelangelos Gedichte beschäftigen mich nachhaltig. Ich möchte darüber schreiben. Diese sinnlich-übersinnliche Liebeskrankheit, diese phantastische Aufgewühltheit, die immer das Verfallensein an das Schöne als Liebe zu Gott und dem Geistigen deutet, diese Kraßheit der Schilderung der eigenen Häßlichkeit, des eigenen Lebenselends halten mich gewaltig fest. Das erotisch aushaltende Alter, das unbezähmbare Verfallensein an schöne Augen. – Das Wetter bedeckt und kühl. Kleine Heiz-Sonne im Zimmer – Schrieb etwas am Kapitel weiter. (Besteigung des Felsens). – Schöne Spaziergänge vormittags und gegen Abend mit K. .- Die Mäntel kamen gute englische Ware. – Sah Michelangelos Bekenntnisse weiter an in Gedanken an einen Aufsatz. – Geschichte der Päpste. – Ein paar Postkarten. Ausbleiben von Post, fast ganz, im Allgemeinen und im Besonderen. Wüsste der Junge in der weißen Jacke, wie ungeduldig ich bin, ein paar Worte von ihm in Händen zu haben, er würde sich etwas mehr beeilen! – Die Küche hier ist vorzüglich. – K. rief Frau Ninon Hesse an abends.

 

„Münchner Kellner, hübsch“. So beginnt am 25. Juni 1950 der Schwarm Thomas Manns für Franz Westermeier, Kellner am Zürcher Grandhotel Dolder. Thomas Manns Zuneigung drückte sich dadurch aus, dass er ihm ein Empfehlungsschreiben anbot und dem Hotelangestellten schrieb. Offenbar antwortete der mit der Ehre einer Empfehlung eines Nobelpreisträgers ausgezeichneten nicht. Dies trübte Mann in seinem Feriendomizil in St. Moritz. Noch will er die Schuld bei mangelnder Vermittlung suchen. Jedoch beschlichen ihn auch Zweifel. Er malt sich lebhaft aus, welche Schwierigkeiten Westermeier gehabt haben könnte, sich zu einer Antwort aufzuraffen, endlich zu schreiben. Endlich.

Schwärmerei, Homoerotik, Homosexualität – mit all diesen Begriffen wurde Manns Verhalten dem jungen Kellner gegenüber gedeutet. Manchen taugte es dazu, einen handfesten Beleg für Thomas Manns Neigung zu Männern gefunden zu haben. Die Tagebucheinträge als Beweis. Wie sich die Zuneigung zu dem jungen Mann steigerte, verraten die Tagebucheinträge. Der Biograph Hermann Kurzke druckt sie ab, kommentarlos, denn sie sprechen für sich selbst. Thomas Mann äußerte seine Gefühle in seinem Tagebuch: Verliebtsein, Sehnsucht, Freude, Leiden. Am 20. Juli ist es Hoffnung und Sehnsucht nach einem Lebenszeichen.

Als Schreibender dokumentiert und verarbeitet Mann seine Gefühle nicht nur im Tagebuch. Der Fall Westermeier treibt ihn um und führt ihn zu künstlerischer Produktivität. Durch puren Zufall wurden Thomas Mann die Gedichte Michelangelos zugetragen. Er fand Gefallen an der Spiegelung des eigenen Schicksals in der Lyrik des großen Renaissancekünstlers, der von Tomasso Cavalieri schwärmt. Die Schönheit von dessen Antlitz, la forza de suo bel viso, entstammt der Lektüre, das „Verfallensein an die schönen Augen“ auch. Er schrieb in seinen Michelangelo-Essay seine Erfahrungen mit Franzl ein. Am 20. Juli erwägt er eine Aufnahme des Schreibprozesses: „Ich möchte darüber schreiben“, wiederholt er fast autosuggestiv.

Aber nicht nur die Schönheit der Jugend beschäftigt ihn, auch die Häßlichkeit des Alters, mitunter die eigene. Frierend sitzen Katia und Thomas Mann auf den Hotelzimmern, tags zuvor mussten sie zwei Wintermäntel bestellen. Mann wärmt nicht nur der elektrische Heizofen, die Umgebung scheint entrückt angesichts der inneren Empfindungen. Allein die Spaziergänge boten Abwechslung. Wer meint, Katia Mann habe nichts von den homoerotischen Annäherungen ihres Mannes gewusst, liegt falsch. Während ihr Mann im Dolder logierte, hatte sie eine Unterleibsoperation an der Klinik Hirslanden über sich ergehen zu lassen – Frauenleiden. In den Wochen nach ihrer Entlassung sind sie sehr vertaut. Erika Mann und ihre Mutter wurden selbstverständlich konsultiert, ob es schicklich sei, dem Hotelpagen einen Brief zu schreiben. Beide bestätigten damit auch seine Schwärmerei, Erika riet sogar dazu, den Moritzer Aufenthalt abzubrechen, damit Thomas Mann wieder ins Dolder zurückkehren könne.

Trotz allem kam Thomas Mann zum Lesen: Ludwig Pastors beim katholischen Herder Verlag erschienene „Geschichte der Päpste“ beispielsweise, eine zentrale Quelle für seinen Gregorius-Roman „Der Erwählte“, an dem er trotz aller Sehnsucht und emotionaler Verwicklung auch an diesem Tag weiter schrieb, am Kapitel XXVII. Der auf dem Fels isolierte wird aufgefunden, ein Fischer erklimmt den Stein, schlägt Eisen in ihn und findet Gregorius: „das Geschöpf“.

Noch im Oktober 1950 trauert Thomas Mann Franzl und dem nicht eingegangenem Brief hinterher, sein Verhalten selbst kommentierend: „Zähe Torheit. Aber man sehe, wie das vorhält“. Sechs Wochen später: „Will notieren, dass ich tatsächlich bis heute jede neue Post darauf durchsehe, ob etwa eine Zuschrift des kleinen Westermeier dabei ist. Vollkommen oder fast vollkommen unsinnig“. Fast, immerhin geriet der Kellner Mann nun ins Zwielicht, denn er hatte „falsche Augen“ in suo bel viso. Sei es wie’s sei: Er hat es notiert.

 

Thomas Mann: Tagebücher 1949-1950. Herausgegeben von Inge Jens. S. Fischer 1991, S. 226f.

Reizklima in Europa

11.07.1939

Nordwijk, Dienstag den 11. VII.39
Mangelhaft geschlafen, früh auf, heiß gebadet, die Nacht war sehr kalt, und ich schlief in drei wollenen Decken. Lange in der Hütte gearbeitet. Mittags Ankunft Oprecht. Mit ihm viel über die Zeitschrift, Lion [1], Golo, der durch Bonnet das franz. Visum für ein Jahr bekommen hat [2]. Das Wetter wurde vollkommen schön und sonnig. Vor dem Lunch Vertrag mit Bermann auf drei Jahre. Wermut. Nachher auf der Terrasse Kaffee und fernere Unterredung mit Oprecht. Blieb zur Ruhe im Stuhl mit Sonnendach. Musik und laute Gäste. Von Oprecht außer Medikamenten, das „Psychoanalytische Volksbuch“ und ein Bilderwerk über Zürich. Von Bermann neue „Ausblicke“. Von de Lange Roths „Trinker“. Br. Franks Broschüren-Manuskript. – Thee mit den drei [3] Gästen auf der Terrasse (Strandkorb gegen die Sonne). Nach der Verabschiedung von ihnen Strandspaziergang mit K. Vorm Diner Lektüre eingegangener Briefe, aber zu müde für Korrespondenz [4]. Nach Tische angesichts des sehr schönen leicht rollenden Sonnenuntergangsmeeres auf dem Balkon. – Die politische Lage sieht nach Détente und Schwindel aus. Defaitistische Stimmen in Frankreich. „Wegen Danzig“. Erika rief aus Paris an, im Begriff nach Zürich zu fahren. Schiffskartenbestellung fallen gelassen. Vorgesehen ist eine Rückreise von Schweden, wo der Vortrag „Das Problem der Freiheit“ zu halten. – Erste Teile des 7. Lotte-Kapitels an Oprecht für „M.u.W“ –

 

Thomas Mann hatte sich auf die Sommerreise nach Europa gefreut. Schon die Überfahrt bescheerte ihm jedoch „leidende Tage, tiefe Nervendepressionen, Thränen und Pein“. Das Wetter, das ihn in Southampton erwartete, war „kalt und verfroren“. Auch aus der Reise nach Zürich wurde nichts, wollten die Manns doch die Ausreise der Schwiegereltern Pringsheim nicht durch ihre Präsenz in der Schweiz gefährden. Stattdessen beschloss das Ehepaar, in den Niederlanden einen Strandurlaub zu verbringen – in Warteposition. Rückblickend schrieb Thomas Mann: „Es hatte keinen Sinn die Schweiz aufzuschieben“. Vom 15. Juni bis 5. August schlug Thomas Mann nolens volens in Noordwijk aan Zee im „Huis ter Duin“ sein Quartier auf. Ein kühler und verregneter Sommer an der Nordsee: Thomas Mann litt den ganzen Aufenthalt über unter den kühlen Nächten und konnte sich einfach nicht akklimatisieren. Noordwijk ist für sein Reizklima bekannt.

Überschattet war die Sommerreise 1939 von den politischen Entwicklungen, die sich auch diesmal ins Private auswirkten. Angesichts der sich spürbar zuspitzenden Lage im deutschen Reich drängten Katia und Thomas Mann auf eine Ausreise der Pringsheims aus München, die das Ehepaar – einst zu den ersten Adressen im Gesellschaftsleben Münchens zählend – teuer bezahlten: mit 75 % Reichsfluchtsteuer. Erika sogte für eine Versteigerung der weltberühmten Majolikasammlung in London, aus deren Erlös die Übersiedlung nach Zürich erkauft wurde. Das Ehepaar Mann wollte die Emigration, der im August von den Nazibehörden stattgegeben wurde, nicht durch eine demonstrative Präsenz in der Schweiz behindern. Die politische Großwetterlage verdüsterte sich zusehends: Die Franzosen seien pessimistisch und mutlos, die Friedensbekundungen des Deutschen Reiches erschienen als Mogelpackung. Bereits auf der Münchner Konferenz vom Vorjahr dominierten die faulen Kompromisse. Das Deutsche Reich ließ sich in seinem Aggressionsduktus nicht stoppen – und Danzig, das noch unter Völkerbundsmandat stand, sollte als erstes „heim ins Reich“ geholt werden.

Die holländische Sommerfrische war geprägt von Geschäftigkeit und Müßiggang. Von Erholung ist jedoch wenig zu merken: schlechter Schlaf, Müdigkeit, laute Musik und lärmende Gäste, die Thomas Mann beim nachmittäglichen Nickerchen auf der Terrasse störten. Immer wieder Beschwerden über Kälte – „Diarrhoe“. Allein lange Strandspaziergänge mit Katia und der Ausblick auf das „Sonnenuntergangsmeer“ entschädigten für die Unannehmlichkeiten. Das „Huis ter Duin“ wurde in diesen Tagen zu Thomas Manns Europahauptquartier: Er empfing Journalisten, den niederländischen Autor Menno ter Braak und auffällig viele Freunde aus dem Verlegermilieu: Fritz Landshoff, Emanuel Querido, Gottfried Bermann Fischer, Emil Oprecht und Alfred Knopf. Im Exilverlag Querido erschienen zahlreiche Bücher Thomas Manns, Landshoff war der Lektor dieses Hauses. Es ging ums Geschäft, um langfristige Verträge – für die englischsprachige Welt mit Knopf, für Europa mit Bermann Fischer, dessen Verlage in Berlin und Wien in Auflösung begriffen waren. Das freie Stockholm wurde neuer Verlagssitz. Am 11. Juli besiegelte Thomas Mann einen Dreijahresvertrag mit Fischer mit Wermut. Beraten wurde er vom befreundeten Zürcher Verleger Oprecht, der die Exilzeitschrift „Mass und Wert“ publizierte, die Thomas Mann mitherausgab. Dem Periodikum drohte das finanzielle Aus. Oprecht fragte um Rat und erhoffte sich bei Thomas Mann erneut Unterstützung. Für Qualität sollte eine Schriftleitung durch Golo Mann sorgen.

Kein Wunder, dass die versammelten Verleger um Thomas Manns Aufmerksamkeit mit Neuerscheinungen buhlten: mit dem „Ärztlichen Volksbuch“ des Basler Psychoanalytikers Heinrich Meng, der „Legende vom Trinker“ von Joseph Roth, die im in de Lange Verlag in Amsterdam erschien, sowie Bruno Franks „Botschaft an Deutschland“, ein Beitrag zur aktuellen politischen Lage. Auch die Schriftenreihe „Ausblicke“ stellte im aktuellen Heft die Frage: „Ist der Krieg vermeidbar?“ Aldous Huxley, Eugen Gürster und Arthur Schnitzler antworteten.

Selbst an solch einem geschäftigen Tag unter schlechten gesundheitlichen Vorzeichen arbeitete Thomas Mann in einer Strandhütte des Dünenhotels – den ganzen Vormittag über. Wir wissen, dass er im Strandkorb das Gespräch zwischen Vater und Sohn fortsetzte; hierzu brauchte es keine Bücher als Quellen. Dennoch flossen Thomas Mann die Sätze nicht leicht von der Hand, seine literarische Produktion war spürbar beeinträchtigt. Als Emil Oprecht abreiste, konnte er ihm den Anfang des 7. Kapitels seines neuen Romans „Lotte in Weimar“ zum Vorabdruck in „Maß und Wert“ mitgeben, um den sich auch die Verlegerverhandlungen drehten. Es handelt sich um die berühmte Morgenszene des aufwachenden Goethe, dem die Geschäfte des Tages genauso durch den Kopf schießen wie ästhetische Fragen zum Zeitgeschmack. Bei der Lektüre dieses nervösen Bewusstseinsstroms mag sich der Leser an das holländische Reizklima erinnert fühlen. Das siebente Kapitel markiert eine Schaffenskrise im Entstehungsprozess von „Lotte“ – erst am 24. Juli 1939 schloss er es nach neun Monaten Arbeit ab.

Ruhe fand Thomas Mann erst in seinem gebliebten Zürich, ein „Besuch mit nostalgischem Charakter“ und mit Einkehr im Grand Hotel Dolder oberhalb des Zürichsees. Als Thomas Mann wenige Tage später ausgerechnet zum Thema „The Problem of Freedom“ beim PEN-Club in Stockholm sprechen sollte, musste die Veranstaltung aufgrund der sich zuspitzenden politischen Lage verschoben werden. Der Krieg hatte am 1. September noch vor der Rückfahrt Manns in die USA Einzug nach Europa gehalten. Der Sommer verhieß bereits nichts Gutes.

 

Thomas Mann. Tagebücher 1937-1939. Herausgegeben von Peter de Mendelssohn. Frankfurt a. Main: S. Fischer 1980, S. 433f.
[1] Ferdinand Lion (1883-1968) emigrierte 1933 in die Schweiz und betätigte sich als Journalist. Er war Redakteur von „Maß und Wert“, zuvor bei Fischers „Neuer Rundschau“. Seine Freundschaft mit Thomas Mann geht auf das Jahr 1917 zurück.
[2] Französischer Diplomat, der Golo Mann half.
[3] Wer die drei Gäste waren, ist nicht ganz klar: Bermann Fischer, de Lange und Oprecht?
[4] In diesen Tagen schrieb Thomas Mann Briefe an Hermann Hesse, Heinrich Mann, Julius Hirsch, Wolfgang Sauerländer und einen langen Brief an Ferdinand Lion wegen „Mass und Wert“.

Sorgenvolle Verschnaufpause in Zürich

18.06.1949

Zürich, Sonnabend 18. VI. 49
Unruhige Nacht. 8 Uhr auf. Kühl. Kaffee und Bad. Nach dem Frühstück zu Dr. Asper. Wiedersehen nach 11 Jahren. Der Alte, gealtert. Schliff etwas ab und nahm 10 Franken. – Zu Fuß. Ankunft Nelly Manns, die K. am Bahnhof verfehlt hatte. Mit ihr in K.’s Zimmer. Über Vikko, Klaus, Heinrich. – Gestern Brief von Yx, der vor Deutschland warnt. In der „Tat“ Meldung aus Weimar, daß ich dort den östlichen Goethe-Preis am 28. August in Empfang nehmen werde. Charakteristischer Festlegungsversuch. – Sehr zweifelhaft, ob ich dort hingehen soll. Abneigung, es mit Amerika zu verderben. – Lunch mit Nelly Mann ohne Erika. Kaffee im Garten. Ich trank nachmittags allein Thee im Garten, wo Tanz und Solo-Tanz war. Später mit den Frauen oben. – 7 Uhr abgeholt von Bibi nach Zollikon zu Mosers. Auf der Veranda mit dem Bübchen. Abendessen. Nachher Schuhs [1] und Frl. Andreä. [2] Bibi spielte, begleitet von dieser, auf der Viola Stücke von Marcelli, Milhaud u. eines Amerikaners. Sehr geübt und technisch brav. Gedächtnis für dieses Diktion zu verwundert. – Viel Gespräch mit Schuh über Faustus, die Entstehung [3] etc. – Frido, der sich freute uns zu sehen, dann sehr vertraut mit Großvater Moser. Ernstliche Eifersucht.

 

Die große Europareise nach Dänemark, Schweden und die Schweiz sollte ein Höhepunkt des Jahres sein. Am 21. Mai erhielt Thomas Mann die Nachricht vom Tod seines Sohnes Klaus in Nizza. Neben diesem Schlag plagte ihn aber auch die Entscheidung, in Deutschland zu den Goethefeierlichkeiten erstmals wieder eine große Öffentlichkeit zu suchen – und dies in Ost und West. Seit Anfang Juni erholte sich das Ehepaar Mann von den Vortrags- und Reisestrapazen in Zürich im Hotel Baur au Lac.

In Zürich suchte Mann auch seinen alten Zahnarzt, Dr. Hans Asper, auf, der ihn bereits während des schweizer Exils bis 1938 behandelt hatte. Offenbar hatte Thomas Mann keine größeren Eingriffe zu erleiden. Der jüngst 74-jährige findet den wenig älteren Dentisten sichtbar gealtert vor, er selbst wähnt sich selbst vital und hält sich mit viel Schlaf, guter Kost und Spaziergängen gesund – so auch am 18. Juni.

Drei Tage zuvor hatte Thomas Mann den Frankfurter Oberbürgermeister Walter Kolb in der Hotellobby empfangen und eine Ansprache zur Goethefeier auf dem Römer am 25. Juli zugesagt, gegen den Rat vieler Freunde und gänzlich Unbekannter wie der erwähnt Brief zeigt. Auch mit Ost-Berlin und Weimar befand er sich in Verhandlungen, zierte sich jedoch, weil er fürchtete, sein Heimatland USA zu prellen. Besonders Erika Mann warnte vor einer Stippvisite in den Osten, der Thomas Mann dann doch zustimmte. Sein Argument, der Besuch gelte ganz Deutschland, nicht einzelnen Zonen, wurde weitgehend akzeptiert und brachte ihn bei den US-Autoritäten nicht um seinen Ruf, wenngleich gerade der Weimar-Besuch von geheimdienstlicher Seite kritisch beäugt wurde. Über den Zürcher Tagen lag Anspannung und Ungewissheit. Würde er überhaupt ein Permit-Dokument bekommen, um in die Ostzone zu reisen?

In diese gespannte Atmosphäre platze die Münchner Schwägerin Nelly Mann - der Frau seines Bruders Viktor, nicht Nelly Kröger, Heinrichs bereits 1944 in Kalifornien verstorbene Gattin. Nachdem sie Katia am Zürcher Hauptbahnhof verpasst hatte, steuerte sie auf das Hotel zu, wo Thomas Mann dann für Logis zu sorgen hatte. Er lotste sie zunächst in das Zimmer seiner Gattin und aß zusammen mit ihr zu Mittag. Für Gesprächsstoff sorgten offenbar der Todesfall von Klaus. Der Besuch Magdalenas, wie Nelly eigentlich hieß, hatte einen ähnlichen Grund: Sie selbst verlor ihren Gatten am 21. April kaum sechzigjährig, der zweite Schicksalsschlag innerhalb der Familie innerhalb weniger Monate. Da Thomas Mann auch die Beerdigung des Bruders nicht besuchen konnte, reiste Nelly zur Klärung der Familiengeschäfte nach Zürich.

Sein jüngster Sohn Michael hatte seine Zürcher Jugendliebe geheiratet. Die Familie von „Bibi“ und Gret verband die Manns weiterhin mit Zürich und erklärt auch die Länge des abwechslungsreichend Aufenthalts. Michael spielte nach Tisch Kompositionen eines der Brüder Marcello, die Ende des 17. Jahrhunderts in Italien in Mode waren, sowie im Kontrast dazu Darius Milhaud, den die Manns aus dem Exil in Kalifornien kannten – ein weiteres Beispiel dafür, dass Mann auch zeitgenössische Musik zur Kenntnis nahm.

Den Höhepunkt des Abends bildete sicherlich Enkel Frido, der die Aufmerksamkeit der Gesellschaft – besonders der beiden Großväter – auf sich zog. Obwohl Michael und Gret Mann weitaus häufiger in Kalifornien weilten als in Zollikon bei Zürich, ist Thomas Mann dann doch sehr verstimmt darüber, dass auch dem anderen Großpapa durch den Jungen viel Aufmerksamkeit geschenkt wird. Für den kleinen Frido spielte es zu diesem Zeitpunkt wohl noch keine Rolle, dass Thomas Mann ihm mit der Figur des Echo ein literarisches Denkmal in seinem „Faustus“-Roman gesetzt hatte. Kinder nehmen nun mal keine „politischen“ Rücksichten.

 

Thomas Mann, Tagebücher 1949-1950. Herausgegeben von Inge Jens. Frankfutr a. M. 1991, S. 70.
[1] Das Ehepaar Willi und Nelly Schuh. Schuh (1900-1986) war Musikkritiker der „Neuen Zürcher Zeitung“ und zeigte beispielsweise in seiner Schrift „Thomas Mann und Arnold Schönberg“ besonderes Interesse an Thomas Manns Roman „Doktor Faustus“ und die Rolle der dort beschriebenen Musik.
[2] Michael Mann arbeitete häufig mit der 40-jährigen aus Berlin stammenden Bärbel Andreä zusammen, die ihn auf dem Piano begleitete.
[3] Im Frühjahr 1949 hatte Thomas Mann einen langen Essay über die „Entstehung des Doktor Faustus“ publiziert; ein epochaler Deutschlandroman, der 1947 erschienen war und dessen Genese und geistesgeschichtliche Quellen und Motive Thomas Mann mit dieser Schrift zu erläutern suchte.

Geburtstag am D-Day

06.06.1944

Pacif. Palis., Dienstag den 6. Juni 1944. Invasion Frankreichs
Mein 69. Geburtstag. Stand ½ 9 auf. Es war neblig-aufklärend. Wurde von K. und der Schwarzen, die sang, empfangen. Während K. mir ihre Geschenke zeigte (Armstuhl fürs Schlafzimmer, Schlafrock, Platten, Ledernützlichkeiten, Seife, Süßigkeiten) rief Mrs. Meyer aus Washington an, von der ich, bevor ich die Zeitungen gesehen, erfuhr, dass die Invasion Frankreichs bei Caen, Calais, Le Havre begonnen hat. Eigentümliches Zusammentreffen. Beim Frühstück die Zeitungsnachrichten. Die Meyer erklärte, befriedigende direkte Nachrichten aus dem Kriegsministerium zu haben. Spannung auf coordinierte Aktionen der Russen. Telephon mit Franks. Man erwartet eine weitere Ansprache des Präsidenten. – Schrieb am Schluss des XVII. Kapitels. Besuch von Revy mit altem Goethe-Bändchen. Mittags auf der Promenade. Viel Post, Briefe von Kahler, Auerheimer. Nach Tische Gottlieb und Guggenheim mit Cigarren. Zum Thee Neumanns, ebenfalls mit Blumen und den rar gewordenen Cigarren. Telephon mit Heinrich. Blumen-Arrangements von der Meyer. 7 Uhr Werfels und Franks mit französ. Champagner, großer Ascheschale, Abendessen zu sechsen mit Champagner. Nach dem Kaffee auf Werfels Wunsch Vorlesung aus dem Roman: da Schleppfuß fehlte, das Kapitel mit Adrians Brief. Gespräch über die Welt des Buches. Nach Wefels Weggang liest Frank die für mich geschriebene Kino-Novelle. Gut gemacht. – Hörten 11 Uhr ausführliche Invasionsnachrichten aus Hollywood und London. – Blumentelegramme von Oprechts-Giese, Bermanns.

 

Wenige Tage vor seinem Geburtstag hatte Thomas Mann einen seiner Radiovorträge „Deutsche Hörer“ beendet. Tags zuvor schloss er einen Geburtstagsgruß an Chaim Waizmann, dem Präsidenten der zionistischen Bewegung, ab, der in der Festgabe zu dessen 70. Geburtstag erschien: „The Enduring People“, für den Mann Hannah Arendts Essay „The Jew as Paria“ heranzog. Thomas Mann war also mit Politischem beschäftigt, als der eigene Geburtstag ins Haus stand. Er maß der Koinzidenz des Tages eine große Bedeutung bei, nämlich dass die Befreiung Frankreichs und mit ihr ein entscheidender Schritt auf der Niederwerfung des Hitlerregimes auf seinen Geburtstag fiel. Wiederholt sprach er in Briefen vom „hoch dramatisch akzentuierten Tag“. Die Invasionsnachricht vermerkte er im Tagebuch mit roten Lettern und lateinischen Buchstaben – einer historischen Inschrift gleich.

Die Nachricht platzte in die intime morgendliche Geschenkzeremonie herein, die Katia ihrem Mann bereitete. Bestens informiert in Washingtoner Kreisen kündigte Agnes Meyer, Manns amerikanische Mäzenin und Gattin einflussreichen des Herausgebers der Washington Post, den Schicksalstag an. Freilich ohne zu versäumen, dass ihre Insiderinformationen aus Regierungskreisen stammte, berichtete sie vom guten Verlauf der Landeoperation der Infanterie. Diese war in aller Frühe begonnenen worden, erste Nachrichten lagen aufgrund der Zeitverschiebung vor. Den ganzen Tag ist bei Thomas Mann die Spannung über den Verlauf der Operation präsent, auch bei der Rede von Roosevelt: Sein „D-Day Prayer“, mit dem er sich an seine „Fellow Americans“ wandte, also auch die wenig später naturalisierten Manns, die eine weitere Ansprache mit Ergebnissen des Schicksalstages erwartet haben. Erst nach den abendlichen Feierlichkeiten hatte Mann Zeit, sich ausführlich zu informieren, sogar bei britischen Sendern. Der Geburtstag lag hinter ihm, die verheißungsvolle Befreiung Europas stand noch bevor.

Ein 69. Geburtstag kann nur Verlegenheit bringen. Thomas Mann hat eine größere Feier vermieden. Die Familie war nicht anwesend, die meisten der Kinder waren im Kriegseinsatz, zumindest alle weit weg. Selbst mit dem auf der Nachbarschaft lebenden Heinrich Mann wurde nur telefoniert – Zeichen der merkwürdig distanzierten Beziehung zum Bruder, der in Kalifornien nur im Schatten des jüngeren Bruders existieren konnte und auf ihn angewiesen war. Stattdessen trafen Verehrer aus der deutschen Kolonie ein und machten ihre Aufwartung: der Regisseur Richard Revy, der eine Faust-Ausgabe aus dem Jahr 1828 schenkte; dann nach Mittag Felix Guggenheim, der nicht zur gleichnamigen finanzkräftigen US-Familie zählt, sondern der Geschäftsführer der Deutschen Buchgemeinschaft mit seinem Freund, dem Fotographen und Musikforscher Ernst Gottlieb, mit dem er „Pacific Press“ gründete, eine Exilzeitschrift. Zum „Thee“ trafen Alfred und Kitty Neumann, Tochter des Münchner Verlegers Müller ein, die zu den Nachbarn der Manns in Pacific Palisades gehörten und als engere Freunde zu bezeichnen sind. Abends dann der engere Kreis: Der Schriftsteller Franz Werfel mit seiner legendären "femme fatale" Alma Mahler-Werfel und dem Ehepaar Bruno und Lisl Frank. Der Schriftsteller arbeitete beim Film in Hollywood.

Aus der Abendgesellschaft kam denn auch der Vorschlag, dem Geburtstagskind eine Freunde zu machen und ihm eine Lesung abzufordern. Thomas Mann ließ sich sicher nicht lange bitten, las jedoch nicht aus dem Kapitel, das wohl noch in Überarbeitung war, sondern den Brief Adrian Leverkühns von seinem Studienort über seine Beschäftigung mit dem Kontrapunkt, „was zwischen mir und dem Satan vorgeht“ und Theologen Eberhard Schleppfuß, der Leverkühn auf andere Gedanken bringt, und seine Entdeckung Chopins. Selbst am Geburtstag schrieb Thomas Mann diszipliniert am folgenden XVIII. Kapitel weiter, in dem der Erzähler Zeitblohm resümiert, „dass er dis dato kein Weib berührt hatte, war und ist mir eine Unumstößliche Gewissheit. Die „Lusthölle“ erlebt Leverkühn noch als theologischen Terminus.

Dass der Tagebuchautor auch Buchhalter ist, wird bei der stolzen Aufzählung der Präsente deutlich: Blumentelegramme, an die er sich zuletzt noch erinnert, eine Schale, die Geburtstagspost. Katia Mann fuhr groß auf: Von der Erleichterung fürs Ankleiden im Schlafzimmer bis hin zu Süßigkeiten wird alles erwähnt – ein geradezu fürstlicher Geschenkereigen. Bemerkenswert ist, dass Mann sowohl französischen Champagner als auch Zigarren als eine Besonderheit erwähnt – nicht weil sie Luxusprodukte waren, sie wurden vielmehr auch im gut versorgten Kalifornien im letzten Kriegsjahr rar. Auch in diesem Detail steckt die Hoffnung auf ein Ende des Krieges, das Thomas Mann mit seiner Biographie koinzidieren sah. Die Befreiung der Champagne ließ nicht lange auf sich warten.

 

Thomas Mann: Tagebücher 1944-1946. Herausgegeben von Inge Jens. Frankfurt a. Main 1986, S. 63.

Vom Einfluss der Kunst auf das Leben

22.05.1937

Sonnabend den 22.V.37
Wieder heiter. Wie immer jetzt früh schlaflose 1/2 8 Uhr auf. Beendete das Vorwort zu leidlicher Zufriedenheit. 22 Seiten [1]. – Wärme-Behandlung. Dann mit K. im Zoologischen Garten, mit dessen Besichtigung wir meiner Beinschmerzen halber nicht weit gediehen. Eindrucksvolles Aquarium. Schimpanse, der den Pot de chambre benutzt. Begattungsszene. Wermut auf der Restaurant-Terasse. Heimfahrt durch den grünen Wald. – Nach Tische Zeitungen auf der Terasse. Nachmittags verfehlter Cimema-Besuch: Skandalöse Vorführung der Luftschiffkatastrophe mit Geschrei der Verbrennenden. Nachfolgend dummer Wiener Gesellschaftsfilm, allerdings mit der Wessely. Ich hatte die Krönungsfeierlichkeiten zu sehen gewünscht. – Aufenthalt im Küstnachter Wald; zu starke Schmerzen. – Zu Hause an Lion [2] geschrieben und mehreres an ihn expediert. – Eindrucksvoller Brief des Journalisten Koestler aus Gibraltar. Der zum Tode verurteilte und knapp Errettete will seine Leiden mit Hilfe meiner Schriften überstanden haben, namentlich des Schopenhauerkapitels aus „Buddenbrooks“. Den Brief zu lesen unterbrach ich mich in der Lektüre des Kapitels „Über den Tod“, die ich wohl seit 35 Jahren nicht wiederholt. Spiel des Lebens. „Ich hätte es früher nicht für möglich gehalten, daß Kunst einen derart drastischen Einfluß auf das Leben gewinnen kann“. Ich auch nicht, früher.

 

Thomas Mann ging in den Zoo und ins Kino – und auch noch beides an nur einem Tag. Beide Aktivitäten passen kaum ins landläufige Bild vom disziplinierten arkanen Schriftsteller. Mann beeindruck im 1929 gegründeten Zoo auf dem Zürichberg das Aquarium und findet allzu Tierisches buchenswert: einen zivilisiert den Topf benutzenden Affen und die „Begattungsszene“. Auch Thomas Mann erlag der Faszination für die ungehemmt öffentliche Sexualität der Tiere – mit der eigenen ging es freilich komplizierter vonstatten.

Am 6. Mai dieses Jahres jährte sich die Hindenburg-Katastrophe zum 70. Mal. Beim Landen in Lakehurst (NY) explodierte das weltweit größte Luftschiff, das im Jahr zuvor in Dienst genommen wurde und einen Atlantik-Rekord von 62 Stunden erzielte. 35 der 97 Personen an Bord von LZ 129 kamen ums Leben. Nicht allein dieser Unfall, sondern eine Reportage des Journalisten Herbert Morrison, die mit Filmmaterial verbunden wurde, führte der Welt die Fragilität der Luftschifftechnik vor Augen, was schließlich zu einem Ende des Transatlantikverkehrs führte. Diese in zahlreiche Sprachen übersetzte Wochenschau hat wohl auch Thomas Mann gesehen. Er empört sich über das ungehemmte Präsentieren des menschlichen Leids und von Schmerzen angesichts der Katastrophe.

Eher einer Seifenoper glich die Entwicklung im englischen Köningshaus: Eduard VIII. hatte 1936 abgedankt um seine Liebe, die Amerikanerin Wallis Simpson, zu ehelichen. Sein Bruder George VI. wurde am 12. Mai 1937 mit seiner Gattin Elizabeth in Anwesenheit seiner Tochter, der heutigen Queen, in Westminster Abbey gekrönt. Dagegen musste sich Thomas Mann mit „Die ganz große Torheit“ mit Carl Froelich, Hedwig Bleibtreu und Kurt Meisel ansehen. Wie Alma Maler-Werfel imponierte auch Paula Wessely Thomas Mann in ihrer präsenten Art. Weniger sympathisch ist ihre spätere Begeisterung für den Nationalsozialismus.

Und immer wieder der eigene Körper: Schlaflosigkeit, wenngleich 7:30 keine nachtschlafende Zeit ist, Bestrahlung und den ganzen Tag über Schmerzen im Bein, die ihn hemmen. Auch beim Spaziergang im nahe gelegenen Wäldchen befallen Thomas Mann Schmerzen. Das Lesen von Zeitungen auf der Veranda ist dagegen Erholung.

Der Höhepunkt des ansonsten wenig angenehm verlaufenen Tages ist ein Brief von Arthur Koestler, einem Schriftsteller und Journalisten, Kommunist, Lektor beim Ullstein-Verlag. Er beobachtete das Geschehen des Spanischen Bürgerkriegs auf republikanischer Seite ähnlich wie Aldous Huxley, kam beim Fall von Malaga in Gefangenschaft der Franco-Partei und wurde nach langem Gefängnisaufenthalt zum Tode verurteilt. Durch britische Intervention kann er sich ins sichere Gibraltar retten und schreibt von dort sogleich Thomas Mann: Die „Buddenbrooks“ hätten ihm das Überleben gesichert, hätten ihn nicht verzweifeln lassen. Besonders die Schilderungen der Todesahnung des Senators im fünften Kapitel des letzten Teils hätten ihm als Resonanzboden gedient. Mann ist von diesem existenziellen Bekenntnis sichtlich ergriffen und nahm sich Schopenhauers „Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich“ vor („Die Welt als Wille und Vorstellung, 2. Teil) – nicht seinen eigenen Romantext. So ist er denn auch ganz bei sich, seinen Erfahrungen und Bedürfnissen, wenn seine Gedanken bis ins Jahr 1899 zurückschweifen und er sich seines Lektüreerlebnisses erinnert. Für Mann schließt sich ein Kreis, ihn imponiert die Wirkung seines Textes, sieht die Intensität seines damaligen Schopenhauererlebnisses bei Koestler gespiegelt. Der Einfluss der Kunst auf das Leben, hier: der stabilisierende Einfluss des Familienromans auf den vor der Hinrichtung stehenden Koestler, wird häufig überschätzt. Es scheint eine Frage der Lebenserfahrung zu sein, ihn zu ermessen.

 

Thomas Mann: Tagebücher 1937-1939. Herausgegeben von Peter de Mendelssohn. Frankfurt a. Main 1980, S. 64.
[1] Thomas Mann schloss das programmatische Vorwort zum ersten Heft der Exilzeitschrift „Mass und Wert“ ab, die er herausgab und die Sohn Golo Mann als Redakteur betreute.
[2] Lion Feuchtwanger (1884-1958), mit dem sich Thomas Mann - selten genug duzte - war ein Schriftstellerkollege, der das Exil der Manns in Sanary-sur-Mer teilte und der in regem Austausch mit Thomas Mann stand und mit ihm ins kalifornische Exil gehen sollte.

Wald, Lektüre und ein zurückgekehrter Lenbach

16.05.1936

Sonnabend den 16.V.36
Prächtiger Sommertag, Ostwind, üppige Wiesen, Bläue und Sonne, die noch nicht allzu schwer. Nahm die Arbeit am Roman wieder auf (Potiphar-Dudu). Ging allein mit Toby durch den Wald. Las nach Tische in dem Buche „Ich kann nicht schweigen“. Vorsatz, Stifter wieder zu lesen. – Rückkunft von Erikas Bild und K.’s Lenbach-Portrait, letzteres aufgefrischt und gerahmt. – Nach dem Thee Korrespondenz. Besuch des jungen österreichischen Schriftstellers Eggarter. Anschließend Briefdiktate, u.a. an die deutsche Freiheitsbücherei, Paris. – Abendessen mit K. allein. Nachher Lektüre in dem deutschen Buch. Welch ein Maß an Schurkerei! Das Buch ist gut für die Welt.

 

Der boshafte Zwerg Dudu spinnt Intrigen gegen den Patriarchen Potiphar, der ihn dafür hart bestraft und vor Gericht stellt. Thomas Mann schrieb Mitte Mai am 7. Hauptstück des dritten Buches seiner „Joseph-Tetralogie“, nachdem er einige Tage mit anderen Geschäften zugebracht hatte. Wie immer nutzte Thomas Mann die Morgenstunden zum Schreiben, dann fesselt ihn wieder eine Buchlektüre, die ihn auch dazu inspiriert haben mag, wieder einmal Adalbert Stifter zu lesen. Auch am Abend kommt er wieder auf das Anti-Nazi-Buch zurück, das er so eindrücklich empfiehlt. Tags darauf besucht er eine Martinee zugunsten von in KZ inhaftierten Menschen.

Kritiker haben Thomas Mann immer wieder vorgeworfen, er lebe wie ein Monarch mit Tagesprotokoll, Audienzen und Staatsgeschäften – und einer „Theestunde“. Audienz erhält in der Tat der Nachwuchsschriftsteller Fred Eggarter, der zu dieser Zeit vielversprechend produktiv war: zwei Romane und Erzählungen mit Zeichnungen von Alfred Kubin, der auch für Manns Texte illustriert hatte, konnte er vorweisen. Sonderlich Eindruck scheint der ambitionierte junge Mann nicht gemacht zu haben, dafür wird er allzu protokollartig abgefertigt. Andererseits werden auch größte Berühmtheiten, die Mann schätzte nicht porträtiert - im Tagebuch zählt eben das Akzidentielle.

Die deutsche Freiheitsbücherei in Paris stand unter dem Vorsitz von Bruder Heinrich Mann. Der Markt für Exilzeitschriften blühte. Tags zuvor erreichten Thomas Mann bereits einige Emigrantenzeitschriften. Er selbst verantwortete in Zürich die Zeitschrift „Mass und Wert“ mit, dessen Redakteur sein Sohn Golo war. Thomas Mann verbrachte viel Zeit mit Absagen und Überlegungen darüber, mit welchen Beiträgen er wessen Sache unterstützen wollte – die Emigrantenszene war geradezu sektiererisch partikular. Mann versuchte eine zu enge Zuordnung zu vermeiden, was bisweilen auch für die Publikationsprojekte seines Bruders galt.

Das Schicksal des aus der Münchner Villa am Herzogpark geretteten Lenbach-Porträts hat Thomas Mann nicht erahnen können. Das Erbstück des Ehepaars Mann fand nach dem Tod von Katia zunächst seinen Weg zu Golo und dessen Adoptivfamilie Beck-Mann in Leverkusen – Familienbesitz im weiteren Sinne also. Vor zwei Jahren tauchte das berühmte Bild, das für mehrere Buchcover als Vorlage dient, bei einem Arzt in Leverkusen auf, der es von seiner Patientin Ingrid Beck-Mann „geschenkt“ bekommen haben will. Ein sehr merkwürdiges Verständnis von Berufsethos. Nachdem die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" den Skandal aufgedeck hatte, wurde das Bild einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich: Vor kurzer Zeit wurde es erneut „aufgefrischt“ und fand einen neuen Platz – im Thomas Mann-Archiv der Eidgenössisch Technischen Hochschule Zürich, wo auch weite Teile des Nachlasses des Autors verwahrt werden. Dort begrüßt es nun den Besucher, der den zweiten Stock des Bodmer-Hauses betritt.

 

Thomas Mann: Tagebücher 1935-1936. Herausgegeben von Peter de Mendelssohn. Frankfurt: S. Fischer Verlag 1978, S. 302f.

Sommerliche Frühlingstage in Küsnacht

15.05.1936

Schönster Früh-Sommertag. Freude an dieser Jahreszeit, die schon die meiner Geburt.-Geschäfte, Korrespondenz. Den Vortrag mit Bermann. Haarwaschung. Mit K. um den Weiher. Russische Bücher [1] kamen, die Emigrantenzeitschriften und das interessante Buch eines Ex-Hitlermannes und erbitterten Wegbereiters: "Ich kann nicht schweigen". Nachmittags geschlafen. An Reisiger, Fiedler [2] u.a. geschrieben Endlose Briefdiktate u.a. an Knopf und v. Pick (Budapest) [3] in der Frage unserer Wohnung (Hatvanyi). - Exposee von Golo über die Humaniora [4] für Budapest [5]durchgearbeitet. - Bibi bestand mit Auszeichnung sein Lehrexamen, geigerisch; in den theoretischen Nebenfächern schnitt er schlecht ab. Abends keines Fest für ihn in Gegenwart des jungen Kayser, mit Champagner-Getränk. Hörten wieder die "Symphonie in blue", begabtes Stück von 1920, nach dem nichts mehr kam. Müde. Spät zu Bette.

 

Mit zwei Tagebuchnotaten aus dem Mai 1936 beginnt unsere neue Rubrik "Aus dem Tagebuch". Ihr Ziel ist es, die im Schatten des dichterischen Werkes stehenden Tagebücher einem breiten Publikum vorzustellen und zu erläutern.
Thomas Mann war ein wacher Beobachter des Zeitgeists wie seiner selbst, ein "blogger" in eigener Sache, dessen Tagebücher jedoch nicht für eine unmittelbare Öffentlichkeit kokettieren, die jedoch im Bewusstsein um den eigenen Stellenwert geschrieben wurden. In unregelmäßiger Folge erscheinen hier Notate mit einer Einordnung. Dadurch sollen besonders typische Züge Thomas Manns verdeutlicht und neue Verbindungen aufzeigen werden, die über die von Inge Jens herausgegebene Tagebuchausgabe in zehn Bänden hinausgehen. Sie sollen nicht in erster Linie den Dichter Thomas Mann vorstellen, sondern den fühlenden und denkenden Menschen in seinem Alltag und seiner Selbstwahrnehmung. Viel Vergnügen beim Lesen!

Warum ist uns das Wetter so wichtig? Wir notieren seinen Verlauf, weil unsere Psyche und unser Befinden auf die Jahreszeiten und Wetterläufte bezogen sind. Strahlend waren die prächtigen Sommertage, die Mann beschreibt. Die Erwähnung des nahenden Geburtstags zeugt von seinem Bewusstsein von dieser Verbindung zwischen dem eigenem Schicksal und den Zufällen des Wetters. Dass er zu dieser strahlenden Jahreszeit und fast zur Goethe'schen Mittagsstunde geboren wurde, erfüllt Thomas Mann mit Stolz.

Das Prominieren, der Kontakt zur Natur, ob allein oder in Begleitung, war für Thomas Mann keine Laune, sondern bestimmte den Tagesablauf. Der Weiher an der oberen Schiedhaldenstraße in Küstnacht am Zürichsee oder das Wäldchen ganz in der Nähe, das mit Hund Toby durchstreift wird, sind Erholungsziele, die im Tagebuch häufiger auftauchen. Drei Jahre nach der Flucht vor den Nationalsozialisten haben die Manns 1936 ein Haus an der Zürcher "Goldküste" gemietet, noch korrespondiert er mit dem Vermieter Bewegung an der frischen Luft bildet den Gegenpol zur dominierenden Tätigkeit: dem Lesen, Schreiben und Diktieren.

In diesen Maitagen war Thomas Mann gedanklich sehr mit Nazideutschland beschäftigt. Obwohl Emigrant forderten ihn nicht zuletzt seine Kinder auf, sich klarer von diesem Deutschland abzugrenzen, ja mit ihm ausdrücklich zu brechen - was jene bereits engagiert getan hatten. Sein erwähnter Verleger Gottfried Bermann Fischer bestand noch auf einer Veröffentlichung seiner Bücher im Deutschen Reich. Anlässlich eines Vortrags wollte Mann hierzu klare Worte finden. Tacheles sprach offenbar Walter Korrodi in seinem anonym bei dem Thomas Mann befreundeten Verleger Oprecht in Zürich erschienenen
autobiographischen Enthüllungsbuch "Ich kann nicht schweigen". Er berichtet detailliert von Machtergreifung, Reichstagsbrand und Röhm-Putsch, dessen Opfer der in die Schweiz emigrierte Korrodi um ein Haar auch geworden wäre. Denn er war ein aus der Freikorpsbewegung stammender glühender
Nationalsozialist, der jedoch auf der Liste stand und in seinem Buch auspackte. "Welch ein Maß an Schurkerei", so Thomas Mann, bei dem kein Zweifel über die Bestialität des Regimes bestanden hat.

Dann die Familie: Golo, der geschätzte Gesprächspartner und Redakteur, mit
dem er zahlreiche Texte durchsprach und der zu dieser Zeit fast als Sekretär des Vaters fungierte. Frau Katia half beim Briefdiktat, sei es an den amerikanischen Verleger Knopf, an den engen Freund, den Übersetzer und Erzähler Hans Reisinger. Der eigentliche Höhepunkt des Tages wird spät erwähnt: das bestandene Examen des 17-jähigen jüngsten Sohnes Michael am Konservatorium. Er hatte die Geigenklasse besucht und sollte als Konzert Violinist und -Bratschist reüssieren. Wie so häufig bei Thomas Mann ist gegenüber dem Sohn ein abschätziger Duktus zu erkennen: in der Kritik an dessen Intellekt beispielsweise.

Interessant zu wissen, dass auch im Hause Mann Champagner kein Alltagsgetränk war, sondern Festtagen vorbehalten blieb. Auf Michaels kleiner Party hat ein Junge besonders Eindruck auf den Hausvater gemacht: der Sohn von Rudolf Kayser, Kant-Biograph und Redakteur der "Neuen
Rundschau", für die Mann häufig schrieb. Und auch ein letztes Grundmotiv des Lebens von Thomas Mann scheint in dem kurzen Notat auf: die Musik. Dass Mann mit dem Titel patzt, ist kein Zufall, handelt es sich doch wohl um den symphonischen Jazz George Gershwins, die berühmte "Rhapsody in Blue" von 1924 - Musik, die eher wohl selten auf dem väterlichen Grammophon gespielt wurde. Auch der schönste sommerliche Frühlingstag geht einmal zu Ende und die Geschäftigkeiten kommen zum Erliegen: "Müde. Spät zu Bette."

 

Thomas Mann: Tagebücher 1935-1936. Herausgegeben von Peter de Mendelssohn. Frankfurt: S. Fischer Verlag 1978, S. 302
[1] Bei den russischen Büchern wird es sich wohl nicht um sowjetische Literatur gehandelt haben, sondern vielmehr um Klassiker russischer Literatur des 19. Jahrhunderts, die Mann liebte und teilweise in der Münchner Villa hatte zurücklassen müssen: Tschechow, Turgenjew, Tolstoi, Puschkin, Dostojewski.
[2] Kuno Fiedler war ein streitbarer evangelischer Theologe und Pädagoge, der seit der Zeit des Ersten Weltkriegs in Austausch mit Mann stand und die jüngste Tochter Elisabeth taufte. Fiedler emigrierte nach Graubünden, wo er als Seelsorger arbeitete.
[3] Bei dieser Person handelt es sich eventuell um Otto Pick, den Redakteur der "Prager Presse", die genaue Identität ist nicht geklärt.
[4] Der Vortrag hatte die Geisteswissenschaften zum Inhalt.
[5] Es handelt sich nicht um einen Vortrag Golo Manns, sondern um eine Ausarbeitung, die Thomas Mann in Budapest vorstellen wollte.