Aufgeklärte Ansichten über Kommunismus und neue Werkpläne
09.11.1948
P. P. Dienstag den 9.XI.48 [9.11.1948]
Unruhig geschlafen. ½2 rote Kapsel. Im Stuhl. – Dasselbe Wetter. Indictment des von Pearson bloßgestellten Parnell Thomas, der komischer Weise die Aussage verweigert nach dem Vorbild seiner Opfer. – Film-President Johnson, von Europa zurück, äußert äußerst aufgeklärte Ansichten über Kommunismus und die Überholtheit der alten Diplomatie. Man solle Arbeiter-Vertreter mit den Weltgeschäften betrauen. – – An der Legende weiter. – Gegangen über das Alte Haus. Klaus Pr. zum Lunch. Kleine Rechnungsfehler im Faustus. Höchst positive Besprechung in »Los Angeles Times« vom Sonntag. – Exemplare des Wiener »Faustus«, unschön dick, mit allen Druckfehlern. Exemplare der Flinkerschen französischen Ausgabe der Kriegsreden mit dummer Einleitung von Vermeil [1]. – Brief von Frido.[2] – Zum Thee Konni Kellen, der von deutschen Zuständen erzählte. Über meine Probleme dort: Leipzig und München. Ist noch mehr gegen die Leipziger Festlegung. – Zum Abendessen Heinrich.
Wie weit links stand Thomas Mann in den USA, nach Ende des Krieges? Zu weit links, meinten Geheimdienste und die Ankläger der Un-American-Activities-Tribunale. Dabei ist seine kritische Meinung vor allem europäisch geprägt, eben der Aufklärung verpflichtet und allergisch auf totalitäre und dumpf-nationale Töne. Aber interessierte er sich überhaupt für die Politik seines neuen Heimatlandes? Sehr wohl: Er las regelmäßig politische Periodica wie „Time“ und „Nation“; mit Herbert Marcuse diskutierte er dieser Tage häufig über Trumans Kabinettsumbildung, die Erneuerung der New-Deal-Politik sowie über das Civil Rights Movement und die Gleichberechtigung der Schwarzen. Mit seiner Tochter Erika schrieb er eine Grußbotschaft für eine Wahlveranstaltung von Trumans Herausforderer Henry A. Wallace, für den er bei der Wahl am 2. November auch stimmte – ein hochaktiver citizen also.
Besonders skeptisch war er gegenüber den antikommunistischen Umtrieben im Land, die in der Erstellung einer schwarzen Liste von in Hollywood beschäftigten Künstlern mündete. Parnell Thomas, Chairman of the House Committee on Un-American Activities, war das Gesicht dieser Proskriptionsmethode. Diesmal stand dieser selbst wegen Begünstigung eigener Büromitarbeiter am Pranger, weil der Journalist Drew Pearson diese Gefälligkeiten aufgedeckt hatte. Die offizielle US-amerikanische Politik war 1948 geradezu hysterisch antikommunistisch. Kein Wunder, dass der Präsident der Motion Pictures Association of America, Eric Alva Jonston, einen „non-governmental exchange“ mit kommunistisch dominierten Ländern wie der Tschechoslowakei und Jugoslawien suchte, der staatlicherseits nicht möglich war. Thomas Mann befürwortete diese Öffnung, die auch Regisseure wie sein Freund William Dieterle vorantrieben, und traf junge Filmemacher aus Ungarn und Tschechien, beispielsweise auf Dinnerparties der Familie Eppstein. Thomas Mann wünschte sich eine neue Politik gegenüber Osteuropa und hielt die diplomatischen Mittel für überholt, er wünscht sich eine Weltverfassung und Stärkung der Vereinten Nationen. Die progressive Idee der Mitbestimmung von Arbeitnehmervertretern in den Konzernzentralen wurde jedoch nie in den USA gesetzlich festgeschrieben, wie es in der späteren Bundesrepublik der Fall war. Aus der Perspektive seines Umfeldes in Hollywood heraus war Thomas Mann politisiert und ein wacher Beobachter seines neuen Heimatlandes, der sich frischen Wind wünschte, der damals aus dem kommunistischen Lager wehte: „Der Kommunismus, widerwärtig in seinen Mitteln, heute wohl die einzige konstruktive Kraft“, schrieb Mann am 13. Dezember 1948. Ein bemerkenswertes Bekenntnis, das jedoch nicht einfach mit parteipolitischem Engagement verwechselt werden darf, ging es Thomas Mann doch wohl eher um neue politische Impulse, um ein antagonistisches Prinzip gegen die präsidialen und kapitalistischen Ideen.
Gegen Thomas Mann wirkt sein Bruder Heinrich, in der Weimarer Republik selbsternanntes Sprachrohr der Arbeiterbewegung, unpolitisch und apathisch. Er ist im Exil verarmt, materiell und vom Elan her betrachtet. Seine einstigen Erfolge waren nicht gefragt, er war auf seinen Bruder angewiesen, dämmerte im Schatten von dessen Erfolgen. Nach einigen Wochen im Haus des Bruders bezog Heinrich Mann eine eigene kleine Wohnung, kam jedoch häufig zum Abendessen zu Besuch. Er hatte nicht einmal ein Telefon: „Und wie soll es werden, wenn wir reisen?“, fragten sich die Manns. Heinrich Mann war verbittert über die Weltverhältnisse: „Bedrückung des Bruders, starren und nichts wissen wollenden Eigensinn. Liquidierung aller Deutschen, die mit Amerikanern u. Engländern kollaborieren, wäre willkommen“, so die resignative Eintragung im Tagebuch vom 14. Oktober. Die Familie sorgte jedoch auch für viel Freude: Kurz vor Weihnachten kam Michael Mann mit den Enkeln Frido und Tony, die für einige Monate sogar die Schule in Santa Monica besuchten. Häufig zu Besuch war Golo Mann, zumeist am Wochenende. Auch Klaus Pringsheim (1923-2001), Sohn des in Japan lebenden Zwillingsbruders von Katia Mann und Dirigenten, lebte seit 1946 zeitweilig im Haus der Manns, zunächst im Amalfi-, dann im San Remon Drive, nur einen Spaziergang entfernt.
Scheinbar nur eine Spitzfindigkeit, aber der Neffe hatte den jüngsten Roman Manns genau gelesen und ihn auf eine Unstimmigkeit hingewiesen, die bis hin zum jüngsten Kommentar des Werkes ungeklärt und wohl unerheblich ist. Im Herbst 1948 wurde der Roman breit diskutiert. Thomas Mann hatte entschieden, durch den essayistischen Text „Entstehung des Doktor Faustus“ sein Werk und dessen Entstehungsprozess zu kommentieren, eine für Mann beispiellose Maßnahme, die zeigt, dass er um das rechte Verständnis dieses so symbolischen Buches fürchten musste. Kurz zuvor hatte er den im Juni begonnenen Essay beendet. Unterdessen rollte die Rezensionsmaschine: Milton Merlin besprach das Werk zwei Tage zuvor unter dem Titel „Thomas Mann Gives His Version of Faust“ in der „Los Angeles Times“. Abgesehen von der maliziösen Besprechung Orville Prescotts in der „New York Times“ waren die Rezensionen, wie besonders die von Charles J. Rolo im „Atlantic Monthly“, sehr positiv. Leider, so Mann, überbetonen die Rezensenten die „deutsche“ Allegorie, Leverkühn sei jedoch ein Held der Gegenwart. Umso nötiger also der Selbstkommentar. Besonders in den USA stellte sich nicht nur publizistischer, sondern auch materieller Erfolg ein: 23.000 Bestellungen lagen laut Verleger Alfred A. Knopf Anfang November vor. Mann erhoffte sich von der amerikanischen Ausgabe eine bessere Qualität als beim fehlerhaften Wiener Druck des „Doktor Faustus“ im Bermann-Fischer Verlag, bei dem einige Passagen gekürzt wurden. Aber auch in Japan, Deutschland in mancher Hinsicht vergleichbar, rührte sich Interesse: In diesen Tagen wechselte Mann zahlreiche Briefe mit japanischen Verlegern, die das Schicksal der untergegangenen deutschen Welt interessierte. Sein Neffe Erik Pringsheim sorgte in Tokio für das Eindämmen wilder Übersetzertätigkeit und konnte vermelden, Thomas Mann sei unterdessen Yen-Millionär geworden.
Mit Katia besprach er wenige Tage zuvor seine „Geldverhältnisse“: „Der Roman [ist] wohl die letzte Gelegenheit, viel zu verdienen, was durch eine gehässige Presse behindert werden kann“. Diese Sorge schwand in den kommenden Wochen zunehmend, die Unzufriedenheit über die literarischen Projekte blieb jedoch bestehen. Anfang November nahm er die Arbeit am Kapitel „Fischer von Sankt Dustan“ seiner Gregorius-Legende wieder auf, wissend, dass diese Legendenerzählung kein internationaler Bestseller würde werden können, wies sie doch die stofflichen Defizite in besonderem Maße auf, die Mann bereits beim „Faustus“ zu einem Selbstkommentar hatten greifen lassen: große Ernsthaftigkeit und Schwere, transzendentales Übergewich, abendländische Düsterkeit. Thomas Mann sann auf ein Gegenmittel, auch um seinem Spätwerk eine unvermutete Wendung zu geben: „Wenn ich lebe und bei Kräften bleibe, wenn Ruhe, Frieden und Heiterkeit mir vergönnt ist, will ich mit der Fortführung des „Felix Krull“ noch eine Erfolgschance schaffen und die Vorstellung der amerikanischen Kritik von meinem prätentiösen Denkertum korrigieren“, schrieb er am 6. November 1948. In der Tat war es weder ein Luther-Drama noch ein Erzähltext über Friedrich den Großen, sondern der Versuch einer Fortsetzung der Hochstaplergeschichte, mit der Thomas Mann 1954 sein Romanwerk vollendete. In den Novembertagen wird deutlich, aus welchen Gründen er sich dem mehr als vierzig Jahre alten Stoff wieder zuwandte: Er wollte die Welt noch einmal überraschen. Noch heute zweifeln Kritiker und Leser, ob dies gelungen sei.
Einer der eifrigsten Trommler für den „Doktos Faustus“ in Deutschland war Hans Mayer (1907-2001), der den Roman in den Periodica „Der Dreiklang“ und „Ost und West“ rezensiert hatte. Der letztere Titel steht fast symbolisch für Mayers eigene Vita: Als Emigarnt in Frankreich und einstiger Lehrer am Collège de Sociologie arbeitete er bei einer Nachrichtenagentur in Frankfurt und dann als Kulturjournalist beim dortigen Rundfunk, wo er auch Golo Mann kennenlernte. Über die westdeutsche Politik enttäuscht, ging er mit Stefan Hermlin und anderen im Frühjahr 1948 in die DDR und nahm einen Lehrstuhl für Literaturwissenschaft in Leipzig an, den er bis zu seiner Rückübersiedlung1963 innehatte. Mit großem Elan versuchte Mayer in Leipzig, eine Thomas-Mann-Stiftung aufzubauen, deren Existenz und Konzeption dieser als „etwas prekär“ bezeichnete. Auch nach Beratungen mit seinem Sohn Golo und dem Freund seiner Kinder Klaus und Erika, dem ehemaligen Besatzungsoffizier und Deutschlandkenner Konrad (Konni) Kellen – ursprünglich Katzenellenbogen – erteilte er Mayer eine Absage und schütte ihm in einem langen Brief vom 14. November sein Herz über die „russische Kulturpolitik“ aus, der er misstraute. Auch zum Ordentlichen Mitglied der Bayerischen Akademie der Künste ließ er sich nicht wählen. Er schrieb seinen Freunden Preetorius und Hans Reisiger ab. Thomas Manns Zögern sich im kommenden Goethejahr 1949 vor den propagandistischen Karren der „Ostzone“ spannen zu lassen, zeigt, dass er die kommunistische Idee zwar als konstruktiv empfand, sich jedoch vor einseitigem Bekenntnis und Indienstnahme scheute. Daher zwei Absagen 1948 und zwei Besuchszusagen 1949. Eine intelligente Politik des Ausgleichs war gefragt.
[1] Der Professor an der Pariser Sorbonne Edomond Vermeil hatte das Vorwort zu „Appells aux Allemands. Message radiofusés aux Allenands d’Octobre 1940 à Juin 1945“ in Paris bei Martin Flinker verfasst, der französischen Übersetzung von Thomas Manns Radioansprachen „Deutsche Hörer!“.
[2] Der Kindergruß aus Zürich ist im Thomas-Mann-Archiv (TMA) erhalten.
Aus: Thomas Mann: Tagebücher. 28.5.1946-31.12.1948. Herausgegeben von Inge Jens. Frankfurt a. Main: S. Fischer Verlag1989, S. 327f.