"Ich bin ein Städter, Bürger, ein Kind und Urenkelkind deutscher bürgerlicher Kultur." Thomas Manns Lebensgeschichte nimmt ihren Ausgang in einem ganz besonderen städtischen Umfeld: Er ist Sohn des Senators Thomas Mann in Lübeck. Die alte Hansestadt mit ihren Backsteinkirchen, engen Gässchen und Bürgerpalais bildet die Kulisse der Kindheit von Thomas Paul Mann, der am 6. Juni 1875 geboren wurde. Mann selbst hat die Kulturtradition Lübecks, das sich bis weit ins 20. Jahrhundert seine Eigenständigkeit bewahren konnte, in seiner Rede von 1926, Lübeck als geistige Lebensform, beschrieben. Die besondere Mischung von Weltoffenheit und Kleinteiligkeit des Stadtstaates, das Kaufmannsethos und die Frömmigkeit - all das prägte die Kinder des Senators, der als wohlhabender Händler ein geachteter Mann war.
Der Hanseat
© Archiv S. Fischer Verlag
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Thomas Mann wuchs im Vaterhaus an der Beckergrube auf, der Lebensmittelpunkt der Großfamilie war aber der Stammsitz an der Mengstraße 4, jenes helle Stadtpalais, das heute als Heinrich-und-Thomas-Mann-Zentrum, kurz: "Buddenbrookhaus" bekannt ist.
In weiten Teilen liest sich Thomas Manns Debütroman Buddenbrooks, der ihn über Nacht einer literarischen Öffentlichkeit berühmt machen sollte, als Blaupause seiner Kindheit in Lübeck. Viele Details sind der eigenen Erfahrung entlehnt, Charaktere abgeschaut. Manns Generationenpanorama steht unter dem Motto "Aufstieg und Verfall einer Familie". Letzterer war der Krise des Selbstverständnisses der Stammhalter als Kaufleute und Bürger geschuldet: Sie zieht es zur Kunst, zur Ablenkung, in andere Welten. Weder Thomas Mann noch sein Bruder Heinrich legten es darauf an, den Vater als Großhändler und politische Größe zu beerben. Die einst stabile soziale Welt des alten Europa war Ende des 19. Jahrhunderts auch in einem vom Mittelalter geprägten Idyll wie Lübeck zu Ende. Europa befand sich im Aufbruch, das Deutsche Reich zeigte sich nach dem Sieg über Frankreich selbstbewusst, die Industrialisierung hielt Einzug und mit ihr stieg die Moderne als sich abzeichnende neue Epoche auf. In den Künsten zeichnete sich dieses Bewusstsein zuerst ab. Eine alte Welt war überkommen, eine neue zu schaffen.
Lübeck mit seinen Traditionen stand für diese überkommene Ordnung, aus der die Brüder Mann in geistige und künstlerische Sphären entflohen: Heinrich Mann absolvierte eine Buchhändlerlehre in Dresden, volontierte beim Verlag der literarischen Avantgarde, S. Fischer in Berlin, unternahm ausgedehnte Reisen und begann zu schreiben. Sein Bruder tat sich als Herausgeber der Schülerzeitung "Der Frühlingssturm" - welch ein Motto für seine Epoche - am Gymnasium ‚Katharineum' hervor. Thomas Mann ist als prominenter Schulversager bekannt: Er schloss nach der 10. Klasse mit der Mittleren Reife ab und bezeichnete sich als "verkommener Gymnasiast". Die wohlhabende Familie Mann bot den Sprösslingen zahlreiche Gelegenheiten, sich standesgemäß abzulenken und eine ästhetische Bildung zu erlangen: so das Saisontheater Tivoli am Ufer der Trave und das Stadttheater. Geprägt hat sie auch das Strandband Travemünde, wo die Manns die Sommerferien zu verbringen pflegten. Mann schrieb rückblickend, er habe in diesem "Ferienparadies" die glücklichsten Tage seines Lebens verbracht.
Wie wäre Thomas Manns Leben wohl verlaufen, wäre der Vater nicht 1891 gestorben? Nur ein Jahr nach dem 100-jährigen Firmenjubiläum der Firma Johann Siegmund Mann stand das Traditionsgeschäft vor dem Aus, weil der Vater die Auflösung verfügt hatte; die Söhne waren auf eine Fortführung nicht vorbereitet, auch nicht willens, sich zu engagieren. Julia Mann fühlte sich als Witwe im Lübecker Umfeld unwohl, beobachtet, ausgeschlossen. Sie und ihre Kinder spielten das altehrwürdige Spiel der Stadtrepublik nicht mehr länger mit. Mit den Geschwistern Julia und Carla und Viktor, dem jüngsten Spross, zog Julia Mann nach München - eine Stadt, die für Weltläufigkeit stand, für Gesellschaft und Modernität. Thomas Mann wahrte zu seiner Vaterstadt zeitlebens eine enge Verbindung: sei es durch kritische Anteilnahme, als Lübeck von britischen Bombern getroffen wurde, sei es als Ehrenbürger der Stadt im Jahr 1955.