Familiäre Herkunft

Neben den Manns und der Familie Wagner gibt es kaum einen anderen ‚Familienclan' in Deutschland, der derart im Zentrum des öffentlichen Interesses steht. Die Manns sind selber Teil einer von ihnen mitverfassten Familiensaga geworden, die eine lange und interessante Vorgeschichte hat.

Bereist im 16. Jahrhundert finden sich die ersten Spuren dieser Familie - in Mecklenburg und Vorpommern. Der 1761 geborene Johann Siegmund Mann (der Ältere) gründete im Jahr 1790 ein Kaufmannsgeschäft in Lübeck. Die Manns waren also alles andere als eine gleichsam seit dem Mittelalter dort beheimatete Dynastie, sondern tüchtige Geschäftsleute, die ihren Weg in der prosperierenden Hansestadt machten. Sein Sohn baute die Firma aus und heiratete in zweiter Ehe 1837 die begüterte Schweizerin Elisabeth Marty. Das älteste von fünf Geschwistern, Thomas Manns Vater, Thomas Johann Heinrich, wurde 1840 in Lübeck geboren. Als Senator, Konsul und angesehener Kaufmann war er ein Mann von Ansehen, im Vergleich zu anderen Lübecker Traditionsfamilien aber noch kein alteingesessener Hanseat.

Die Mutter Thomas Manns stammt "von ganz unten auf der Landkarte" - sie wurde in Brasilien geboren. Ihr Vater Johann Ludwig Hermann Bruhns versuchte 1837 in Brasilien mit einer Exportfirma für Kaffee und Zucker sein Glück und heiratete zehn Jahre später Maria Luiza da Silva, die im Jahr 1856 verstarb und sechs Kinder hinterließ. 1856 kehrte Bruhns kurzzeitig nach Lübeck zurück, und seine Tochter Julia erlitt wie ihre Geschwister einen Kulturschock. Das junge Mädchen galt als exotisch und ist anscheinend in Lübeck nie ganz heimisch geworden - auch nicht, als sie 1869 Thomas Manns Vater ehelichte und mit fünf Kindern ein großes Haus führte. Heinrich, eigentlich nach seinem Onkel Luiz Heinrich genannt, wurde am 27. März 1871 geboren, es folgte Thomas Mann, die beiden Schwestern Julia Elisabeth (1877-1927) und Carla Auguste (1881-1910). Karl Viktor Mann war das ‚Nesthäkchen' und kam 1890 zur Welt, kurz bevor die Mutter Lübeck mit Ziel München verließ.

Als ihr Mann 1891 verstarb, verließ sie das enge Lübeck und begann in München ein neues Leben, die Kinder folgten ihr. Ihr Mann hatte ein veritables Vermögen hinterlassen, eines mittlerer Größe wie Thomas Mann stets betonte. Sie starb im Jahr 1923 in Weßling in Oberbayern. In verfremdeter Form findet sich die Familiengeschichte der Manns in den Buddenbrooks verdichtet. Wer also etwas über das Milieu der Familie des Nobelpreisträgers erfahren möchte, dem sei die Lektüre dieses Romans empfohlen!

Als Reminiszenz an die brasilianische Herkunft von Thomas Manns Mutter wurde das Geburtshaus von Maria Luiza da Silva, die Casa Mann in Paraty als Künstlerzentrum und Gedenkstätte entwickelt.

Heinrich Mann

27. März 1871-12. März 1950
"Ich bin geworden wie ich bin, (...) weil ich nicht werden wollte wie du", sagte Thomas Buddenbrook im Streit zu seinem Bruder Christian. Thomas Mann hat diesen Satz seiner Romanfigur auch auf sein Verhältnis zu Heinrich Mann gemünzt. Sternstunden der Weltliteratur verdanken sich diesen Gefühlen von Nähe, Herkunft und daraus resultierender Abgrenzung, ja von Hass.

Kein Bruderpaar hat die deutschsprachige Literatur des 20. Jahrhunderts derart geprägt wie Thomas Mann und sein Bruder Heinrich - jeder für sich, gemeinsam und gegeneinander. Ihre Rezeption folgte lange Zeit den Linien, die sie weltanschaulich trennten: der Zivilisationsliterat und Kommunisten-Sympathisant Heinrich auf der einen Seite des politischen Lagers, Thomas als "notorischer Villenbesitzer" und Hofmeister der Bürgerlichkeit auf der anderen. Schon zu beider Lebzeiten wurde die Frage gestellt, wer denn nun der bessere von beiden sei, wer schließlich der Nachwelt erhalten bleibe. Die Antwort darauf fällt leicht: beide und jeder auf seine Weise. Die Breitenresonanz der Gegenwart steht auf Thomas Manns Seite, was die Qualität und Aktualität Heinrichs Schaffen nicht im geringsten schmälert.

Heinrich Mann besuchte das Lübecker Katharineum bis zur zwölften Klasse; noch vor seinem Abitur und dem Tod des Vaters trieb es ihn hinaus, nach Dresden, wo er eine Buchhändlerlehre absolvierte und anfing, eine Existenz als Schriftsteller zu führen. Mit zwanzig Jahren wurde er Volontär im aufstrebenden Verlag der literarischen Moderne, bei S. Fischer in Berlin, wo er für zwei Jahre im Zentrum der literarischen Strömungen seiner Zeit stehen sollte, an der Universität hörte und die dortigen Cafés der Boheme frequentierte. Heinrich Mann unternahm ausgedehnte Auslandsreisen nach Paris und durch Italien, legte seinen ersten Roman, In einer Familie, vor und avancierte zum Herausgeber der Zeitschrift Das Zwanzigste Jahrhundert.

Als Thomas Mann verfrüht die Schule verließ, war sein älterer Bruder sein leuchtendes Vorbild: ein Intellektueller mit besten Verbindungen, vielseitigen Interessen, er war erfolgreich und schlug die Karriere eines Schriftstellers ein. Die Brüder gaben für viele Jahre ein gutes Team ab, reisten nach Rom und Palestrina, philosophierten und planten ihre schriftstellerischen Würfe gemeinsam. Ihre Konversation aus Lübecker Tagen, das "Gippern", eine ironische Lästerei, pflegten beide auch in der Zeit bis 1900. Die Briefwechsel zwischen den Brüdern zeugen von tiefer Verbundenheit und dem hohen Niveau ihrer künstlerischen Auseinandersetzung. Rasch wurde allerdings klar, dass beide so gut wie Partner auch Konkurrenten waren. Es gab den ersten scharfen Streit, Thomas Mann musste sich von Heinrich unterscheiden lernen - noch fehlte ihm dafür die Übung. Heinrich hingegen war sehr produktiv, kein Jahr ohne Novellen und Romane. In Schlaraffenland. Ein Roman unter feinen Leuten (1900) zeigte sich Heinrichs sozialkritische Einstellung besonders.

Sein Bruder wie auch Schwester Julia wählten den bürgerlichen Weg der Heirat in großbürgerliche und wohlhabende Häuser. Heinrich verachtete diese Welt, er lebte bis 1910 mit Inés Schmied in ‚wilder Ehe'. Thomas kritisierte Heinrich Manns Die Jagd nach Liebe (1903) heftig, seit dem Durchbruch mit den Buddenbrooks spürte er Oberwasser. Während Thomas Mann in den Jahren nach seiner Heirat mit Katia Pringsheim wenig produktiv war, legte Heinrich mit Professor Unrat (1905) eine schonungslose Analyse der Gesellschaft des Kaiserreiches vor. Heinrich verstand sein Schreiben zunehmend als politischen Akt, bekannte sich zu Demokratie und Pazifismus. Seine Kleine Stadt (1909) und Thomas Manns ‚Aristokratenbankrott-Roman' Königliche Hoheit haben ein Thema gemeinsam: Wie soll das Gemeinwesen beschaffen sein? Sie kommen aber zu höchst unterschiedlichen Antworten.

Der Bruderzwist spitzte sich vor dem Ersten Weltkrieg zu. Heinrich heiratete die Prager Schauspielerin Maria Kanová und lebte mit ihr in München; dem Bruder ging er aus dem Weg. Der Ausbruch des Weltkrieges und die unterschiedliche Reaktion der Brüder hatte eine siebenjährige Funkstille zur Folge, die Thomas Mann zutiefst dazu herausforderte, sich dem Bruder zu beweisen. Heinrich Mann hatte gerade den Roman Der Untertan abgeschlossen, der vor dem Krieg nicht mehr erscheinen konnte. Er stand dem Hurra-Patriotismus skeptisch gegenüber, wie ihn Thomas Mann in Gedanken im Kriege äußerte. Anders sein Bruder, den er im Zola-Essay indirekt kritisierte. Die Auseinandersetzung der beiden Brüder steht gleichsam repräsentativ für die Kräfte, die sich in Europa und in Deutschland unversöhnlich gegenüberstanden: Nationalismus und Internationale, Kulturbehauptung und Kosmopolitismus - beides trennte zwei deutschsprachige Schriftsteller, zwei Geschwister, eine Familie. Die Betrachtungen eines Unpolitischen wurden für Thomas Mann die Projektionsfläche für alles, was er auch an sich selbst hasste. Am Ende des Krieges hatte Heinrich Mann mit dem Untertan großen Erfolg, denn er nahm die deutsche Mentalität aufs Korn, die letztlich zum Weltkrieg geführt hatte. Die Betrachtungen waren dagegen auch ein trotziges Manifest der Rechtfertigung eines deutschen Überheblichkeitsgefühls.

Erst 1922 gelang die Aussöhnung zwischen den Brüdern; Thomas Mann hatte sich vom nationalen Irrweg verabschiedet, Heinrich avancierte mit seiner Rede auf Kurt Eisner, mit Macht und Mensch und mit Diktatur der Vernunft zu einem der führenden Intellektuellen der Weimarer Republik. Erst jetzt trafen sich die Familien regelmäßiger; 1916 war Heinrichs einziges Kind, Leonie, zur Welt gekommen. Für Klaus, Erika und Golo Mann war der Onkel ein geschätzter Gesprächspartner, ein Vorbild, ein Familienantipode zum Vater.

Mit den Zeitromanen Mutter Marie (1927), Eugénie (1928) und Die große Sache (1930) hatte Heinrich Mann große Erfolge. Er war Festredner bei einer Gedenkfeier für Viktor Hugo in Paris, legte 1931 einen autobiographischen Rückblick, Chronik der Gedanken und Vorgänge (1929), vor. Ein Jahr zuvor war sein Professor Unrat mit Marlene Dietrich in den Kinos zu sehen - unter dem weltbekannten Titel Der blaue Engel. Von seiner Frau Maria und der Tochter trennte er sich 1928, zwei Jahre später ließ er sich scheiden; Maria wurde 1939 in das KZ Theresienstadt verschleppt und verstarb 1947 in Prag an den Folgen des Lageraufenthalts. Eine neue Frau war in Heinrichs Leben getreten: Nelly Kröger, eine dralle Blonde aus dem Volk. Zeitlebens pflegte Heinrich Mann Umgang mit leichten Mädchen und Bar-Bekanntschaften. In Kutscherkneipen schaute er dem Volk aufs Maul, aber er mischte - ganz realistischer Dichter - auch mit. Nelly galt schnell als Schandfleck der Familie, sie war lustig und laut. Thomas und Katia Mann hatten vor diesen "Heinrich-Bräuten" wenig Achtung. Allgemein machte sich angesichts des Nobelpreises eine Überlegenheitsstimmung in Thomas Mann breit, die die Basis für den versöhnlichen und mildtätigen Umgang mit dem Bruder bildete.

Das Exil bedeutete für Heinrich Mann einen Bruch. Schon in den letzten Jahren der Weimarer Republik hatte er den Kontakt zu den neuesten literarischen Strömungen verloren, die Jahre des realistischen Erzählens schienen, auch bei den anderen Exilanten, vorbei zu sein. Länger als sein Bruder harrte Heinrich Mann, der schon frühzeitig im Jahr 1933 Berlin verlassen hatte, in Europa aus. Resigniert hatte er allerdings nicht, denn mit seinem Lesebuch Es kommt der Tag und der Essay-Sammlung Mut setzte er Zeichen. Wie sein Bruder nahm auch er 1936 nach der Ausbürgerung - Heinrich Mann war einer der ersten, der auf der Liste der Nationalsozialisten stand - die tschechische Staatsangehörigkeit an. Die Bücher des einst Gefeierten wurden in Deutschland verbrannt. Heinrich Mann lebte bis zu seiner Flucht aus Europa in Nizza. Nach einem abenteuerlichen Marsch mit dem Ehepaar Werfel sowie seinem Neffen Golo erreichte er auf der Flucht vor den Deutschen mit Nelly über die Pyrenäen Spanien und schiffte sich von Portugal nach Amerika ein. Wenn dieses Land auch für den Alteuropäer Thomas Mann eine Herausforderung bedeutete - für Heinrich war es eine fremde Welt, deren way of life er nicht teilte.

Auch wenn seine zwei Bücher über Henri Quatre erschienen, die parallel zu Manns Josephs-Tetralogie entstanden waren - ausreichende Einkünfte hatte er nicht, nachdem ein Vertrag mit Warner Brothers in Hollywood auslief. Da nennenswerte Einnahmen nur aus der Sowjetunion kamen, verarmten Heinrich und Nelly Mann. Sie waren nun von den Schecks des Bruders abhängig, der Heinrich zwar zu Hilfe kam und anerkennende Worte fand - an seinem Leben teilhaben ließ er ihn nicht. Dies lag nicht zuletzt an Nelly, die schon vor Jahren begonnen hatte, ihre Probleme im Alkohol zu ertränken und die Ablehnung der Familie Thomas Manns zu spüren bekam; sie nahm sich am 17. Dezember 1944 das Leben.

In seinen Memoiren Ein Zeitalter wird besichtigt schaute Heinrich 1945 auf sein Leben zurück, wenig optimistisch. Freude bereitete ihm eine Brieffreundschaft mit einer Berliner Prostituierten sowie seine Skizzen von üppigen Damen, die vor wenigen Jahren aus dem Nachlass publiziert wurden und die neben aller Schlüpfrigkeit erkennen lassen, dass Heinrich Mann ein Talent zum Zeichnen hatte. Zeitlebens zog es den Patriziersohn zu diesem Typ Frau hin, fühlte er sich unter schlichten Menschen am wohlsten - das hätte sein distinguierter Bruder Thomas niemals vermocht. Für Heinrich Mann war die Parteinahme für die Armen in der Gesellschaft kein Lippenbekenntnis, er hatte die literarische Bewegung, die mit der Arbeiterbewegung einherging, begleitet und geprägt. In seinen Büchern legte er den Finger auf die Wunde; es erscheint als konsequent, dass die Ost-Berliner Akademie der Künste Heinrich Mann als ihre Galionsfigur einspannen wollte. Für den designierten Akademiepräsidenten hätte ein Nachsommer der Ehrungen und Pflichtübungen begonnen - er schwankte lange, sich auf die DDR einzulassen.

Am 12. März 1950 verstarb der fast 80-Jährige in Santa Monica, seine Beerdigung war schwach besucht. Die DDR erwies dem Veteran der Arbeiterliteratur nicht nur durch hohe Auflagen ihre Ehre, Heinrich Manns Urne wurde im Jahr 1961 auf den Dorotheenstädtischen Friedhof nach Berlin überführt. Bereits in den 1960er Jahren begann in der Bundesrepublik eine intensive Beschäftigung mit Heinrich Manns Texten, die heute aus dem Deutschunterricht nicht wegzudenken sind. Auch er ist ein Klassiker der Moderne, wenngleich seine Schriften für eine völlig andere Weltsicht stehen. In vielerlei Hinsicht überwiegen die Gemeinsamkeiten der beiden Brüder Mann. Gestartet waren sie als verschworene Bohemiens, die ihre Ideen gemeinsam entwickelten. Thomas verehrte den Bruder, konnte aber kaum anders, als sich von ihm abzugrenzen.

Weitere Geschwister: Julia, Carla, Viktor

Julia Elisabeth Mann, genannt Lula

(1877-1927)
Nur ein Buch haben Thomas und Heinrich Mann gemeinsam geschrieben, besser: gezeichnet: das Bilderbuch für artige Kinder, das den jüngeren Geschwistern die bürgerliche Welt in ihrer Doppelbödigkeit vor Augen führen sollte. Alle drei jüngeren Geschwister haben das seit 1933 verschollene Werk der älteren Geschwister studiert, und es mag seine Wirkung nicht verfehlt haben.

Sie tendiere zu sehr ins Bürgerliche - dies sollte Heinrich Mann der Schwester zeitlebens vorwerfen. Thomas Mann wiederum fand sich damit ab, sympathisierte sogar mit der aufstiegsorientierten Einstellung seiner Schwester: Aufstieg durch Heirat. In Kindertagen war Lula der Schwarm von Armin Martens, nach eigenem Bekunden Thomas Manns war es seine erste Liebe. Sie heiratete als erstes der Mann-Kinder, die es ja zusammen mit der Mutter nach München verschlagen hatte - nämlich im Jahr 1900 den Münchner Bankier Josef Löhr, der als Kunstgelehrter Dr. Institoris im Doktor Faustus Eingang fand. Die wohlhabenden Löhrs ereiferten sich in den folgenden Jahren über Heinrichs Umgang und beklagten sich über dessen Verlobte Inés Schmied. Heinrich und Julia brachen den Kontakt ab, Thomas und Katia Mann hielten während der Münchner Jahre Kontakt, es gab Besuche, kleinere Landpartien und ein Zusammensein mit der Mutter, der Josef Löhr eine Wohnung im Künstlerdorf Polling vermittelt hatte. Aus der Ehe stammten drei Töchter: Eva Maria (1901) sowie die Zwillinge Rosemarie und Ilsemarie (1907).

Julia Manns Leben fand ein plötzliches Ende: Am 10. Mai 1927 nahm sie sich durch Erhängen das Leben, die Untreue eines Geliebten mag dafür der Anlass gewesen sein. Thomas Mann, aber auch Heinrich hat ihr Tod tief erschüttert. "Meine Schwester war die inkarnierte Konvention. Daran lag ihr mehr als an allem anderen: nicht aufzufallen; zu erscheinen, wie man muß. Daran ging sie zugrunde." Was Heinrich Mann hier aus seiner Sicht der Konformität der Bankiersgattin zuschreibt, hatte wohl auch andere Gründe; die unglücklich Verheiratete betäubte sich über Jahre hinweg mit Morphium, woran sich auch nach dem Tod ihres Ehemannes 1922 nichts änderte. Wie viel Thomas Mann seine Schwester bedeutet hat, lässt sich am Ausspruch ablesen, sie sei gleichsam sein "weibliches Neben-Ich" gewesen.

Carla Auguste Olga Maria Mann

(23. September 1881-30. Juli 1910)
Trotz aller Sympathien für Julia war Carla Mann die Lieblingsschwester von Thomas und vor allem von Heinrich Mann. Sie war eine von ihnen, eine künstlerische Existenz. Carla Mann behauptete sich als moderne und unabhängige Frau, die rauchte, sich schminkte und dem unbürgerlichen Beruf einer Schauspielerin nachging. Allerdings scheiterte ihre Karriere mangels schauspielerischen Esprits, und Engagements in Provinztheatern nahm sie nicht an. Noch bei einem Engagement in Göttingen war sie dem Tausendsassa und Widerpart Thomas Manns, Theodor Lessing, im Jahr 1906 näher gekommen, ein Schwabinger Bohemien, den ihre Mutter bereits gut kannte. Lessing charakterisiert die junge Carla als "resignierte Chaiselongueexistenz mit heroischer Sehnsucht nach einem Millionär".

Carla fand einen solchen Erlöser nicht. Nach einem Fehltritt mit einem bekannten Schürzenjäger versuchte dieser, sie zu erpressen. Ihre Ehre als unbescholtene Frau stand auf dem Spiel. Im jungen elsässischen Industriellen Arthur Gibo schien sie den Mann ihres Lebens gefunden zu haben; dieser verhielt sich zögerlich und ließ sich von seiner Familie leiten, die Carla nicht gern als zukünftige Schwiegertochter sehen wollte. Angesichts der Erpressungsversuche nahm sie sich am 30. Juli 1910 in der Wohnung der Mutter in Polling in deren Anwesenheit durch Zyansäure das Leben.

Für Thomas Mann, der sogleich aus dem naheliegenden Tölzer Feriendomizil aufbrach, war ihr Freitod ein Schock; er machte sich vor, ihre Belastung habe sie ganz allein tragen müssen. Wie später beim Suizid von Klaus reagierte er vorwurfsvoll: "Sie hatte bei dieser That kein Solidaritätsgefühl, nicht das Gefühl unseres gemeinsamen Schicksals. Sie hätte sich von uns nicht trennen dürfen." Dieses Schicksal seiner Geschwister war das Ringen mit der bürgerlichen Existenz. Beide Schwestern sind an den Zwängen ihrer Zeit zerbrochen.

Beide Brüder hat dieser Tod stark bewegt und zum Schreiben herausgefordert: Über die tragischen Umstände ihres Todes sind wir aus Heinrich Manns Bericht Carla, Thomas Manns Lebensabriss und dem 35. Kapitel des Doktor Faustus informiert, in dem er seine Schwester als Clarissa in Literatur verwandelt und die junge Schauspielerin in Pfeiffering Hand an sich legen lässt.

Karl Viktor Mann, genannt Vicco

(12. April 1890-21. April 1949)
Der Jüngste der Familie sollte einen anderen Lebensweg nehmen als seine Geschwister, ihn zog es nicht zu den Künsten hin. Im Jahr 1890 in Lübeck geboren, sorgte der baldige Umzug nach München dafür, dass er nicht in hanseatischer Umgebung aufwuchs, sondern in Pensionen in Augsburg und München, wo er das Max-Gymnasium besuchte.

1903 folgte er seiner Mutter Julia Mann (Hintergrund) auf das Gut Polling, wo seine Leidenschaft für die Landwirtschaft geweckt wurde. Er machte ein Volontariat am berühmten Staatsgut Weihenstephan bei Freising und setzte seine Studien nach dem Freiwilligenjahr beim Militär an der dortigen Schule für Agrikultur fort. Im Jahr 1914 absolvierte er rasch sein Agrarexamen und heiratete Magdalena Kilian. Unversehrt aus dem Weltkrieg heimgekehrt, war er beim Amt für Milchwirtschaft beschäftigt und machte Karriere als Fachmann für Agrarkredite bei Banken.

Seine Aufgabe als Sachverständiger gab er im Jahr 1939 zugunsten einer Tätigkeit als landwirtschaftlicher Berater bei der Wehrmacht auf. Viktor Mann dachte wohl nicht an Emigration. Als systemkonformer Fachmann schien er vor Diskriminierung sicher. Thomas und Heinrich Mann pflegten zeitlebens einen herzlichen aber seltenen Kontakt mit dem Bruder, der so ganz in seinem bürgerlichen Leben aufgegangen war und der sich von den Eskapaden der anderen Familienmitglieder distanzierte. Gleich nach Ende des Zweiten Weltkriegs kam Viktor Mann wieder in Amt und Würden und war erneut als Sachverständiger für Agrarkredite tätig.

Kurz vor seinem Tod im Jahr 1949 erschien seine Autobiographie unter dem Titel Wir waren fünf, in der er sich als unbekanntestes Mitglied der Familie in Erinnerung rufen wollte.